Sechsundzwanzig Minister und ein Bundeskanzler der Nachkriegszeit waren vor 1945 Mitglieder der NSDAP. Einige von ihnen gehörten zeitweise sogar SA und SS an. Wie viele Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Juristen und Beamte ihre NS-Karriere praktisch nahtlos in Politik, Justiz und Verwaltung der Bundesrepublik fortsetzen konnten, ist dagegen immer noch weitgehend unbekannt.
Erst seit wenigen Jahren wird über das Tabuthema der „braunen Wurzeln“ in deutschen Parteien, Ministerien, Gerichten und Sicherheitsbehörden offen debattiert. Immerhin hat die Aufarbeitung begonnen: 2010 präsentierte eine unabhängige Historikerkommission ihre Erkenntnisse zur Übernahme von NS-Eliten in das Auswärtige Amt. Kurz darauf folgte eine ähnliche Untersuchung über das Bundeskriminalamt. In Arbeit sind Analysen in weiteren Ministerien und Bundesbehörden, so beim Bundesnachrichtendienst, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und den Ministerien für Justiz, Finanzen und Wirtschaft.
Inzwischen sind sich die Parteien im Bundestag zumindest grundsätzlich einig, dass es fast sieben Jahrzehnte nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft an der Zeit wäre, eine systematische Erforschung der Rolle von NS-Eliten im bundesrepublikanischen Staatswesen zu beginnen. Im Detail gibt es dennoch Streit. Die gemeinsame Vorlage von Koalition und SPD für die Bundestagsdebatte am Donnerstag sieht eine Bestandsaufnahme zur Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bundesministerien und -behörden sowie der vergleichbaren DDR-Institutionen vor. Grünen und Linken ist das zu wenig.
Nur unbelastete Offiziere?
„Der Antrag der Koalition und der SPD enthält nur Mini-Schritte und kein wirkliches Konzept zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Behörden“, sagt Grünen-Fraktionschefin Claudia Roth. Das reiche nicht aus nach den intensiven Debatten der letzten Jahre. In einem gemeinsamen Antrag fordern die beiden Oppositionsparteien daher eine systematischere Aufarbeitung der „braunen Wurzeln“ in Regierung und Verwaltung, aber auch in den Parlamenten und dem Justizapparat. Zudem dürfe die Forschung sich nicht auf die Frühphase der Bundesrepublik beschränken.
In den widerstreitenden Anträgen fällt auf, dass eine Institution wieder einmal unerwähnt bleibt – die Bundeswehr. Seit vor einigen Jahren die Diskussion um die „braunen Wurzeln“ des Staates einsetzte, hat sich kaum jemand öffentlich dafür ausgesprochen, auch die Gründergeneration der bundesdeutschen Armee von unabhängigen Historikern beleuchten zu lassen. Es scheint die irrige, von Verteidigungsministerium und bundeswehreigenen Militärhistorikern seit Jahren geförderte Annahme vorzuherrschen, dass ausschließlich unbelastete Offiziere und solche aus dem Widerstand gegen Hitler die Bundeswehr nach 1955 aufgebaut haben.
Keiner aus dem Widerstand
Schon die Zahlen widerlegen dies: 31 der 38 Generäle, die die Bundeswehr bei ihrer Gründung 1955 besaß, hatten zum Teil bis zuletzt dem Generalstab der Wehrmacht angehört. Auch die bis 1957 ernannten 44 Generäle stammten überwiegend aus dem Generalstab des Heeres. Noch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bestand die Generalität und Admiralität der Bundeswehr ausschließlich aus meist hochrangigen Wehrmachtsoffizieren; keiner hatte dem Widerstand gegen Hitler angehört. Auch das übrige Offizierskorps war überwiegend aus der Wehrmacht rekrutiert worden: Von den 14.900 Zeitsoldaten, die 1959 der Bundeswehr angehörten, hatten 12.360 bereits in der NS-Zeit einen Offiziersstatus.
Die Übernahme früherer Wehrmachtsoffiziere in die Bundeswehr hat Winfried Heinemann untersucht. Der frühere Truppenoffizier ist Abteilungsleiter für Ausbildung und Fachstudien am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Potsdam. Jede junge Demokratie stehe vor dem Dilemma, die Eliten des alten Regimes weiterzuverwenden oder zu riskieren, dass die neuen Institutionen schlecht funktionieren, sagt Heinemann: „Bundeskanzler Adenauer hatte eine funktionale Sichtweise. Und die lautete: Der Nato kann ich keine 18-jährigen Generäle andienen.“
Gleichwohl sei damals genau untersucht worden, welche hochrangigen Offiziere man in die neue Armee übernehme. „Ein Personalgutachterausschuss, der auch mit Offizieren aus dem Widerstand besetzt war, prüfte alle Einstellungen ab Dienstgrad Oberst aufwärts“, sagt Heinemann. Das geheim tagende Gremium habe damals auch Bewerber abgelehnt, ein Einspruch dagegen sei ebenso wenig möglich gewesen wie eine Einsicht in die Ausschussakten. Auch habe der Gutachterausschuss Vorgaben für die Annahmekommission festgelegt, die über Einstellungen von unteren Dienstgraden zu entscheiden hatte. Eine Erfolgsgeschichte, wenn man Heinemann glauben darf. „Wir hatten in der Bundeswehr Generäle mit Kriegserfahrung, Leute mit gebrochenen Biografien“, sagt er. „Aber eines hatten wir bis heute nicht: einen Nazi-Skandal, wie es ihn etwa gab im Auswärtigen Amt, in der Justiz, beim BND oder in den Medien. Das verdankt die Bundeswehr ihrer rigorosen Selektion in den Anfangsjahren.“
Zuständig für Deportationen
Ob die „Selektion“ bei der Bundeswehr aber wirklich rigoros war, ist bis heute von unabhängigen Wissenschaftlern nicht erforscht worden. Dabei gibt es Offizierskarrieren genug, die berechtigten Zweifel an der angeblich so sauberen Gründergeneration erlauben. Nur ein paar Beispiele:
Heinz Trettner, seit 1956 Bundeswehrgeneral und ab 1964 Generalinspekteur. Trettner war Staffelkapitän der wegen Kriegsverbrechen berüchtigten Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg. 1940 plante er als Stabschef den militärischen Überfall auf Holland und befehligte die Bombardierung Rotterdams. In Italien war der Ritterkreuzträger unter anderem an der Ermordung von Zivilisten als Vergeltung für Partisanenaktionen beteiligt. Er gehörte nicht dem Widerstand gegen Hitler an.
Hellmuth Mäder, Generalmajor der Wehrmacht und Generalleutnant der Bundeswehr. Seine Einheiten waren im Weltkrieg nachweislich an zahlreichen Kriegsverbrechen beteiligt. Noch im April 1945 erhielt Mäder einen hohen Militärorden.
Adolf Heusinger, Militärberater Adenauers, Generalinspekteur der Bundeswehr und Generalstabschef in der Nato. In der Wehrmacht Vizechef des Generalstabes des Heeres und in dieser Funktion beteiligt an dem Rasse- und Vernichtungskrieg im Osten. Nach dem Stauffenberg-Attentat war er kurzzeitig in Haft, wurde aber von Hitler persönlich rehabilitiert.
Viele wollten die Wehrmacht zurück
Hans Speidel brachte es in der Bundeswehr zum Vier-Sterne-General und zum Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa. In der Wehrmacht war er an den Überfällen auf Frankreich und – als Stabschef – auf die Sowjetunion beteiligt. Als Chef des Kommandostabes beim Militärbefehlshaber im besetzten Frankreich war er zuständig für die Deportation Tausender Juden in die Vernichtungslager. Nach dem Stauffenberg-Attentat kam er wegen seiner Kontakte zu Widerstandskreisen in Haft, entging aber aus bis heute ungeklärten Gründen einem Urteil.
Vor der Gründung der Bundeswehr 1955 hatte es in Bonn kurzzeitig die ernsthafte Erwägung gegeben, die neue Armee wieder Wehrmacht zu nennen, was angesichts des Personalbestandes wohl ehrlicher gewesen wäre. Aus Rücksicht auf die Westbindung rückte man davon aber ab. Dabei hätte es dafür sogar Rückhalt in der westdeutschen Bevölkerung gegeben: In einer Umfrage des Allensbach-Instituts stimmten damals lediglich 25 Prozent für die Bezeichnung Bundeswehr. 35 Prozent der Befragten hingegen wollten die Wehrmacht zurück.
Andreas Förster schreibt für den Freitag über Rechtsextremismus und innere Sicherheit
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