Er werde nun den Durchsuchungsbericht von der Festnahme des Angeklagten André E. vom 24. November 2011 verlesen, kündigt der Vorsitzende Richter im Münchner NSU-Verfahren, Manfred Götzl, an. Prompt melden sich die Verteidiger zu Wort: Sie möchten die Aktenteile, die Götzl zu Gehör bringen will, erst einmal selbst lesen. Der Richter unterbricht eine halbe Stunde, dann kommen alle wieder in den Saal. Nun stellen die Verteidiger von André E. und der Hauptangeklagten Beate Zschäpe den Antrag, den Bericht nicht zu verlesen. Wieder wird die Verhandlung unterbrochen. Nach einer Stunde kommt das Gericht zurück in den Saal – Antrag abgelehnt. Götzl liest den Durchsuchungsbericht vor. Dazu werden Fotos von E.s Schlafplatz im Haus seines Bruders Maik im brandenburgischen Mühlenfließ gezeigt, wo der mutmaßliche NSU-Vertraute vor knapp sechs Jahren von einem Sondereinsatzkommando verhaftet wurde.
Es ist der 24. Oktober 2017, der 384. Verhandlungstag im NSU-Prozess. Viel mehr als die Verlesung des Durchsuchungsberichts passiert an diesem Tag nicht, sieht man einmal davon ab, dass die Verteidigung erneut Befangenheitsanträge gegen zwei der Richter ankündigt. Es werden der 15. und 16. Befangenheitsantrag innerhalb von drei Verhandlungstagen sein, oder vielleicht auch schon der 19. und 20. – längst haben die Prozessbeteiligten und Zuhörer aufgehört, mitzuzählen. Mit stoischer Ruhe nimmt das Gericht die Ankündigung der Verteidiger zur Kenntnis und vertagt einmal mehr die Verhandlung. Am Tag darauf, dem 385. Verhandlungstag, tragen E.s Verteidiger vor, sie bräuchten noch einen Tag mehr Zeit, damit ihr Mandant den neuerlichen Befangenheitsantrag formulieren kann. Richter Götzl unterbricht die Verhandlung, weiter geht es erst an diesem Donnerstag.
Es droht eine Farce
Was sich derzeit im Münchner NSU-Prozess abspielt, ist an Absurdität nicht zu überbieten. Da sind die Verteidiger der beiden Angeklagten André E. und Ralf Wohlleben, die angesichts der ihren Mandanten drohenden hohen Haftstrafen mit allen juristischen Tricks versuchen, den Fortgang des nun schon viereinhalb Jahre dauernden Prozesses zu verhindern und ein Scheitern zu provozieren. Ihnen gegenüber steht das Gericht, das all diese Attacken erkennen und parieren muss, um auf der Zielgeraden nicht doch noch ins Straucheln zu kommen. Der NSU-Prozess, der trotz seiner überlangen Dauer und wegen seiner ungewöhnlich akribischen Beweisaufnahme bislang ein Musterbeispiel für ein rechtsstaatliches Strafverfahren war, droht in seiner Schlussphase in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Farce zu werden. Wie konnte es dazu kommen?
Entstanden ist die dramatische Situation am 12. September, dem 382. Verhandlungstag, als Bundesanwalt Herbert Diemer sein umfangreiches Schlussplädoyer beendete. Überraschend forderte er für André E., den engsten Vertrauten und Helfer des NSU-Kerntrios, zwölf Jahre Haft wegen Beihilfe zu versuchtem Mord und schwerem Raub. Und er beantragte gleich noch einen Haftbefehl wegen Fluchtgefahr gegen den Angeklagten. Dabei hatte es bis dahin so ausgesehen, als könne der Zwickauer Neonazi E. mit einer milden Strafe davonkommen.
Das Gericht erließ den Haftbefehl, und Richter Götzl nutzte die Begründung für einen sogenannten rechtlichen Hinweis für den Angeklagten. Darin legte er dar, weshalb aus Sicht des Gerichts eine Verurteilung E.s wegen Beihilfe – wie es die Ankläger fordern – mit großer Wahrscheinlichkeit in Frage kommen könnte. Zu solch einem rechtlichen Hinweis ist ein Richter verpflichtet, wenn eine Veränderung von rechtlichen Gesichtspunkten vorliegt. Und da die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer die Rolle von E. bei den Terrorstraftaten des NSU deutlich schwerer gewichtet hatte, als das nach dem bisherigen Prozessverlauf zu erwarten gewesen wäre, musste Götzl diesen Hinweis geben. Schließlich dient das dem schutzwürdigen Verteidigungsinteresse des Angeklagten vor einer Überraschungsentscheidung und gibt der Verteidigung die Gelegenheit, sich darauf in ihrem Schlussvortrag einzustellen.
Aber mit dem rechtlichen Hinweis war das Gericht auch wieder in die Beweisaufnahme eingetreten, die vor Beginn der Plädoyers eigentlich bereits abgeschlossen war. Das hatte Folgen: Befangenheitsanträge dürfen nämlich gegen Gericht und Prozessbeteiligte nach dem Ende einer Beweisaufnahme nicht mehr gestellt werden. Mit Götzls rechtlichem Hinweis ergab sich für die Verteidigung plötzlich die Möglichkeit, dies doch wieder zu tun. Und die Anwälte von E. und Ralf Wohlleben, dem wegen Beihilfe zum Mord ebenfalls eine langjährige Haftstrafe droht, nutzten diese Möglichkeit seitdem weidlich aus.
Erfolgsaussichten? Null!
Dabei dürfte den Anwälten bewusst sein, dass die Erfolgsaussichten, in einer solch späten Verhandlungsphase das Gericht oder einzelne Prozessbeteiligte tatsächlich noch aus dem Verfahren zu katapultieren, gegen null gehen. Den Verteidigern geht es mit ihrer Kaskade von Befangenheitsanträgen daher vorrangig darum, eine längere Verhandlungsunterbrechung zu erreichen. Paragraf 229 der Strafprozessordnung sieht vor, dass eine Verhandlung nur 21 Tage ruhen darf, sonst muss der ganze Prozess von vorn beginnen. Wenn es ihnen also gelingt, diese Drei-Wochen-Frist mit ihrer Antragsflut zu knacken, dann muss der Prozess von vorn beginnen.
Wenn an diesem Donnerstag der 386. Verhandlungstag beginnt, werden seit dem letzten am 25. Oktober gut zwei Wochen vergangen sein. Richter Götzl hat also noch einen zeitlichen Puffer von einigen Tagen, sollten noch nicht alle Befangenheitsanträge entschieden sein. Doch auch wenn – was zu befürchten ist – die Verteidiger von E. und Wohlleben neue Anträge stellen und eine sofortige Unterbrechung der Sitzung fordern, könnte Götzl unter Verweis auf den Beschleunigungsgrundsatz vorerst weiterverhandeln und erneut Dokumente aus den Ermittlungsakten verlesen. Mit einer solchen Aktion würde er die Drei-Wochen-Frist einhalten.
Bleibt abzuwarten, wie lange die Verteidiger dieses Spiel noch fortsetzen. Erst wenn keine neuen Anträge mehr gestellt werden, können die Plädoyers mit den Schlussvorträgen der Nebenklage fortgesetzt werden. Eins aber steht fest: Ein Urteil gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten wird es dieses Jahr nicht mehr geben.
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