Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausens wurde am vergangenen Wochenende des 70. Jahrestags der Befreiung gedacht. Eine Lücke in der KZ-Forschung schließt derweil Dagmar Lieske, die das Schicksal sogenannter „Berufsverbrecher“ am Beispiel des Lagers Sachenshausen in der Nähe Oranienburgs untersucht.
der Freitag: Sie erforschen „Berufsverbrecher“, die während des Nationalsozialismus in Konzentrationslager gesperrt wurden. Wer fiel eigentlich alles in diese Kategorie?
Dagmar Lieske: Das waren überwiegend wegen Eigentumsdelikten Vorbestrafte, aber auch Frauen, die Abtreibungen vorgenommen hatten. Dazu gehörten auch Männer, die auf Basis des Paragrafen 175 wegen homosexueller Handlungen verurteilt worden waren oder Juden, die gegen die antijüdischen Gesetze verstoßen hatten. Nach Hitlers Machtantritt 1933 war ein „Gewohnheitsverbrechergesetz“ erlassen worden. Es führte die Sicherungsverwahrung erstmals ein.
Für wen galt die Verwahrung?
Die Sicherungsverwahrung betraf nicht nur Mörder und Sexualstraftäter, sondern auch Personen, die etwa wegen Diebstahls, Unterschlagung, Betrug oder als Homosexuelle verurteilt worden waren. Auch heute befinden sich übrigens Personen in Sicherungsverwahrung, die wegen Eigentumsdelikten vorbestraft sind.
Kann man die aktuelle Praxis der Sicherungsverwahrung denn mit der von damals vergleichen?
Nein, dennoch ist es wichtig, sich klarzumachen, dass sie auf das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ zurückgeht. Parallel dazu schufen die Nazis 1933 noch die Möglichkeit einer sogenannten Vorbeugehaft für „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslagern.
Warum?
Die Idee dahinter war, Personen, die mehrfach vorbestraft waren und deshalb von Kriminalbeamten als unverbesserlich angesehen wurden, dauerhaft von der Gesellschaft zu isolieren. Für die Einstufung eines Straftäters als „Berufsverbrecher“ gab es anfangs formale Vorgaben: Mindestens drei Vorstrafen von jeweils mindestens sechs Monaten Haft mussten vorliegen, damit der jeweilige Kriminalbeamte einen Straftäter zum „Berufsverbrecher“ erklären und beantragen konnte, ihn in Vorbeugehaft zu nehmen. Das wurde dann in den Konzentrationslagern vollstreckt. Von Beginn an gab es jedoch auch Ausnahmeregelungen, etwa gegen Sexualstraftäter, die schon mit einer Vorstrafe in Vorbeugehaft genommen werden konnten. Sowohl Vorbeugehaft als auch Sicherungsverwahrung waren nicht an eine aktuelle Straftat gekoppelt, sondern beruhten auf der Annahme eines zukünftigen kriminellen Verhaltens.
Warum wissen wir so wenig über die von den Nazis als „Berufsverbrecher“ eingestuften Häftlinge in den Lagern?
Sie zählen zu den Häftlingsgruppen, die in der Gedenkkultur lange ausgeblendet worden sind – genau wie als homosexuell Verfolgte, Sinti und Roma oder auch sogenannte „Asoziale“. Sie standen nicht von Beginn an im Fokus der Forschung. Das hat natürlich auch mit der komplizierten Quellenlage zu tun, die besonders bei den lange ignorierten Häftlingsgruppen große Lücken aufweist.
Woran liegt das?
In der Endphase der NS-Herrschaft sind viele Unterlagen in den Konzentrationslagern und der dazugehörigen Verwaltung vernichtet worden. Bei diesen Häftlingsgruppen gibt es im Vergleich etwa zu den politischen Häftlingen auch nur wenige Erinnerungsberichte oder Nachlässe, auf die der Historiker zurückgreifen kann. Wir haben also ein doppeltes Problem: Man hat sich lange nicht für diese Gruppen interessiert, und daher ist auch wenig dazu dokumentiert und gesammelt worden. Das hat die Forschung erschwert.
Welche Rolle spielt die Entschädigungsgesetzgebung in Deutschland, die ja „Berufsverbrecher“ nicht erfasste?
Damals entschädigte der Staat zunächst Opfer, die aus politischen, rassischen und religiösen Gründen inhaftiert wurden. Wer also nicht materiell und finanziell für seine KZ-Haft Entschädigung erwarten konnte, den sieht die gesellschaftliche Diskussion auch nicht als Opfer an. Im Grundsatz ist diese Gesetzgebung bis heute die gleiche. Zwar gibt es inzwischen eine Härtefallregelung, die es theoretisch auch als „Berufsverbrecher“ verfolgten Personen – sofern sie überhaupt noch am Leben sind – erlaubt, eine meist einmalige Geldentschädigung zu beantragen. Einen Rechtsanspruch darauf haben die Betroffenen jedoch nicht. Hinzu kommt, dass es in den Strafverfolgungsbehörden nach dem Krieg personelle und formale Kontinuitäten gab.
Inwiefern?
Die Behörden wandten die Kategorie des „Berufsverbrechers“ für Kriminelle ja noch bis in die 1960er Jahre hinein kritiklos an. Viele Kriminalbeamte und Juristen vertraten zudem die These, diese seien im Prinzip zu Recht in ein KZ gekommen. Indem man damit aber eine Häftlingsgruppe aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verdrängte, hat sich diese auch nicht an der Aufarbeitung in den Gedenkstätten beteiligen können.
Dabei waren die „Berufsverbrecher“ auch quantitativ eine relevante Häftlingsgruppe in den Lagern.
Ich habe mich in meiner Arbeit auf die im KZ Sachsenhausen inhaftierten „Berufsverbrecher“ konzentriert. Deren Zahl lag bei mindestens 9.181 Häftlingen. Dazu gehörten auch die Sicherungsverwahrten, das waren mehr als 400 Personen, die noch einmal eine eigene Gruppe darstellen. Sie kamen aus Justizanstalten und wurden erst ab Ende 1942 nach einer Übereinkunft zwischen dem Reichsjustizministerium und SS-Führer Heinrich Himmler – wie es wörtlich in historischen Quellen heißt – zur „Vernichtung durch Arbeit“ in die Lager überstellt. Überdurchschnittlich viele Sicherungsverwahrte kamen ums Leben, weil sie in der KZ-Haft unter unmenschlichen Bedingungen körperlich schwere Arbeit verrichten mussten.
In vielen Erinnerungsberichten insbesondere von politischen KZ-Häftlingen wird behauptet, dass die mit einem grünen Winkel an ihrer Häftlingskleidung gekennzeichneten „Berufsverbrecher“ von der SS in den Lagern bevorzugt worden sind. Stimmt diese Darstellung?
Das ist sicher ein Vorurteil, das sich lange gehalten hat, weil man wenig über die Gruppe der „Berufsverbrecher“ wusste und forschte. Richtig ist, dass die SS gerade in den Anfangsjahren der Konzentrationslager bestimmte Personen aus ausgewählten Häftlingsgruppen heranzog, um ein Kontrollsystem zu etablieren, in dem Häftlinge andere Häftlinge überwachen und kontrollieren mussten. Ausgewählt dafür wurden vor Beginn des Krieges vor allem deutsche Inhaftierte. Das waren aber nicht nur Kriminelle, sondern im gleichen Maße auch politisch Verfolgte. Das Klischee des von der SS bevorzugten „Berufsverbrechers“ ist eben geprägt von den Aussagen anderer Häftlingsgruppen, die in der Gedenkkultur einen höheren Stellenwert hatten. Aus deren unbestritten negativen Erfahrungen mit Einzelnen wurde der Blick auf eine ganze Haftgruppe abgeleitet. das ist in dieser Pauschalität falsch und verzerrend. Von den mehr als 9.000 „Berufsverbrechern“, die ich mit meiner Arbeit erfasst habe, hat nur ein ganz geringer Prozentsatz tatsächlich solche Kontrollfunktionen ausgeübt.
Wird in den kommenden Jahren das Thema der „Berufsverbrecher“ in den Lagern weiter aufgearbeitet?
Ich hoffe es, und ich weiß auch, dass mehrere Studien dazu bereits in Arbeit sind. Die Kontinuität der gesellschaftlichen Ausgrenzung, die die in den Lagern inhaftierten „Berufsverbrecher“ während und nach der NS-Zeit erleben mussten, hat viele Betroffene und ihre Familien geprägt. Eine materielle Entschädigung wäre richtig und für diejenigen, die noch leben und das in Anspruch nehmen können, sicher wichtig, weil es ihnen auch eine gesellschaftliche Anerkennung verschaffen würde. Worum es heute gehen muss, wäre eine Auseinandersetzung mit den Biografien dieser Menschen – und die Anerkennung ihrer Verfolgungsgeschichten.
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