Worum geht es in diesem NSU-Prozess eigentlich?
Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass nicht nur Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt allein für die Taten verantwortlich sind. Weil nach ihrer Überzeugung die beiden einerseits zusammen mit Beate Zschäpe eine terroristische Vereinigung gebildet und die Morde gemeinsam geplant haben. Andererseits, weil die übrigen vier Angeklagten dem Trio dabei geholfen haben, ihre Straftaten zu begehen. Diese Hilfsleistungen sind noch nicht verjährt und müssen daher juristisch verfolgt werden.
Der Hauptangeklagten Zschäpe wird vorgeworfen, als Mitglied der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) an zehn Morden, mehreren Mordversuchen, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 Banküberfällen beteiligt gewesen zu sein. Außerdem soll sie mit dem Anzünden der Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße schwere Brandstiftung und versuchten Mord begangen haben, da sich während des Feuers in der Nachbarwohnung eine 89-jährige Frau befunden hat. Durch die Verpuffung hatte sich eine Wand hinter dem Sofa der Nachbarin so verschoben, dass sie hätte einstürzen können.
Warum gilt er als einer der größten Strafprozesse überhaupt?
Die Dimension des Verbrechens und der Ermittlungsarbeit machen den NSU-Prozess noch vor Beginn zu einem der bedeutsamsten Strafverfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zehn Morde, die aus Hass auf Ausländer und Repräsentanten des Staates begangen worden sind. Erstmals seit drei Jahrzehnten gibt es wieder einen Prozess, der sich mit Verbrechen des organisierten Rechtsterrorismus befasst.
Entsprechend voll wird der Verhandlungssaal 101 sein: Fünf Angeklagte, rund ein Dutzend Verteidiger, fünf Berufsrichter und zwei Schöffen, zwei Berufsrichter und zwei Schöffen als Reserve, bis zu fünf Vertreter der Bundesanwaltschaft als Ankläger, zehn Verteidiger, 64 Nebenkläger und 46 Nebenklagevertreter, drei Sachverständige und zwei Dolmetscher werden anwesend sein.
27 einzelne Anklagepunkte sind zu verhandeln, die in der 488 Seiten umfassenden Anklageschrift mit ihren mehr als 1.600 Fußnoten erläutert sind. 606 Zeugen führt allein die Bundesanwaltschaft auf. Vor Beginn des Verfahrens mussten die Prozessbeteiligten die Verfahrensakte durcharbeiten, die insgesamt rund 300.000 Seiten in 700 Ordnern umfasst. Weil es sich um einen Indizienprozess handelt, wird mit einer Verfahrensdauer von mindestens anderthalb Jahren gerechnet.
Warum findet der Prozess in München statt?
Fünf der zehn Morde, die dem NSU zur Last gelegt werden, sind in Bayern begangen worden: drei in Nürnberg und zwei in München. Die einzige Alternative war das Oberlandesgericht in Düsseldorf, weil es über den größten Sitzungssaal verfügt. Dort fand in den Jahren 2009 und 2010 der Prozess gegen die islamistische Sauerland-Zelle statt.
War der NSU eine terroristische Vereinigung?
Das ist die wichtigste Frage des Verfahrens; von ihr hängt die Verurteilung der Angeklagten ab. Nach Paragraf 129a des Strafgesetzbuches muss eine terroristische Vereinigung einen Täterkreis von mindestens drei Personen umfassen. Außerdem muss es eine feste Organisationsstruktur und einen gemeinsamen Organisationswillen gegeben haben.
Die Ankläger der Bundesanwaltschaft haben keinen Zweifel, dass Zschäpe an der konspirativ agierenden Gruppe und deren Taten mitgewirkt hat: Aus ihrer Sicht ist das Trio Ende Januar 1998 nicht nur wegen einer drohenden Verhaftung untergetaucht. Sie hätten vielmehr geplant, sich zu einem „fest organisierten Verband zusammenzuschließen mit dem Ziel, aus der Illegalität heraus durch Mord- und Sprengstoffanschläge ihre nationalsozialistisch geprägten völkisch-rassistischen Vorstellungen … zu verwirklichen“, heißt es in der Anklage.
Die Anschläge hätten alle drei gemeinsam geplant, jeder habe seinen Anteil an der Durchführung der Taten gehabt. Zschäpe habe einen sicheren Rückzugsraum geschaffen, ein Umfeld, das ein normales Leben vorgaukelte. Sie habe außerdem das bei den Banküberfällen erbeutete Geld verwaltet und falsche Personaldokumente beschafft.
Aus Sicht der Verteidigung jedoch gibt es für den Vorwurf, Zschäpe sei drittes Mitglied einer terroristischen Vereinigung gewesen, keinen ausreichenden Beleg. Die Indizien, die die Bundesanwaltschaft dafür zusammenführt, beruhten aus ihrer Sicht auf Mutmaßungen und umstrittenen Zeugenaussagen, die in der Hauptverhandlung sorgfältig nachgefragt werden müssen. Zudem gehe die Bundesanwaltschaft über die auffallenden zeitlichen Brüche in der Tatserie sowie die „inhaltlichen“ Zäsuren, was etwa Begehensweise und Opferauswahl anbelange, einfach hinweg, argumentieren die Anwälte.
Welche Taten kann die Anklage eindeutig beweisen?
Das ist im Fall von Zschäpe die spannende Frage in diesem Prozess. Tatsächlich gibt es keine eindeutigen Belege dafür, dass sie an den dem NSU zugeschriebenen zehn Morden und 15 Banküberfällen mittelbar oder unmittelbar beteiligt war. Sie war zu keinem Tatzeitpunkt an einem der Tatorte.
Allerdings haben die Ermittler schwerwiegende Indizien zusammengetragen: So wurden im Brandschutt der Zwickauer Wohnung und im Wohnmobil die Mordwaffen sowie das Bekennervideo gefunden. Auch die Dienstwaffen der beiden in Heilbronn niedergeschossenen Polizisten lagen dort.
Gegen die Möglichkeit, dass das Trio die Ceska erst nach dem Ende der Mordserie erworben haben könnte, spricht die Aussage von Carsten S.: Er hat die Ceska besorgt und weitergegeben.
Auf Festplatten, die aus der Zwickauer Wohnung stammen, konnten Dateien gesichert werden, die auch im Bekennervideo verwendet worden sind. Auf zwei Blättern eines Zeitungsarchivs, in dem Artikel über die Ceska-Morde abgeheftet waren, fanden sich Fingerabdrücke von Zschäpe. In ihrer Wohnung lagen auch Stadtpläne mit ausgespähten Anschlagszielen. Sichergestellt werden konnte dort auch eine handschriftliche Skizze jenes Kasseler Internetcafés, in dem sich im April 2006 der letzte Ceska-Mord ereignete.
Was die Brandstiftung betrifft, ist die Beweislage erdrückend. Mehrere Zeugen hatten Zschäpe vor der Explosion aus der Wohnung laufen sehen, an der Kleidung fand sich auch Benzin, das als Brandbeschleuniger benutzt worden war.
Für welche Taten gibt es denn lediglich Indizien?
Es gibt den nicht unwesentlichen Vorwurf, Zschäpe habe auf ihrer Flucht nach dem 4. November 2011 mindestens 15 fertig adressierte und frankierte Briefumschläge mit dem NSU-Bekennervideo aufgegeben.
Aber nur auf einem der Umschläge sind tatsächlich ihre Fingerabdrücke gefunden worden. Auf den restlichen Umschlägen gab es keinerlei Spuren oder DNA von einem der drei mutmaßlichen Terroristen. In Nürnberg hatte das Video zudem in einem unfrankierten Brief den Adressaten erreicht. Auch soll Zschäpe bei ihrer Flucht aus Zwickau laut übereinstimmender Zeugenaussagen nur eine mittelgroße Handtasche dabei gehabt haben, in die 15 Umschläge kaum hineingepasst haben dürften.
Lücken weist die Anklage auch bei dem Vorwurf auf, dass Mundlos und Böhnhardt alle zehn Morde und 15 Banküberfälle begangen haben sollen. Denn nicht in jedem Fall konnte nachgewiesen werden, dass die beiden zu dieser Tatzeit auch ein Fahrzeug angemietet hatten. Im Falle der Morde ist die zeitlich parallele Anmietung von Autos neben den Tatwaffen und einer – allerdings nur in einem Fall – zutreffenden Personenbeschreibung eines Zeugen aber das wichtigste Indiz für eine Täterschaft der beiden Männer.
In der Anklage wird auch eingeräumt, dass man nicht herausfinden konnte, auf welchem Weg Zschäpe vom Tod ihrer beiden Freunde an jenem 4. November 2011 erfuhr. Gab es eine dritte Person, die in Eisenach dabei war und sie informierte? Die Anklage schweigt dazu. Stattdessen wird nur lapidar festgestellt, dass der NSU „zu keinem Zeitpunkt ein Netzwerk mehrer Zellen, sondern stets eine singuläre Vereinigung aus drei Personen“ gewesen sei.
Unklar ist laut Anklage ebenfalls, wie Zschäpe die Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße in Brand gesetzt hat. Sie habe wohl zehn Liter Benzin dort ausgebracht. Bei geschlossenem Fenster entwickelt sich so ein hochexplosives Luftgemisch, das auf bislang unbekannte Weise entzündet wurde, erst nachdem sie selbst die Wohnung verlassen hatte.
Unscharf bleiben auch die Vorgänge im Wohnmobil. So findet sich in der Anklage weiterhin die Behauptung, dass aus dem Fahrzeug heraus ein Schuss auf die Polizeibeamten abgegeben worden sei – die Spurenlage widerspricht dem aber. Unerwähnt bleibt auch, dass sich an den für die Morde verwendeten Tatwaffen keinerlei Fingerabdrücke oder DNA-Material der drei befanden.
Wie wird die Strategie der Verteidigung wohl aussehen?
Zunächst einmal werden die Anwälte durch eine Flut von Anträgen den Beginn der Beweisaufnahme hinauszögern. Damit wollen sie den Prozess nicht verschleppen, sondern die juristischen Voraussetzungen für ein mögliches Revisionsverfahren sichern.
Bei diesen Anträgen dürfte es um Besetzungsfragen des Gerichts gehen; um Zweifel an einem objektiven und fairen Verfahren angesichts der medialen und politischen Vorverurteilung der Angeklagten. Eine Rolle wird wahrscheinlich auch die Diskussion um die Vergabe der Presseplätze durch das Oberlandesgericht spielen und die in diesem Zusammenhang noch anhängige Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.
Noch vor Beginn der Beweisaufnahme könnten zudem die Anwälte von Holger G. und Carsten S. eine Abtrennung der Verfahren ihrer Mandanten beantragen. G. und S. sind geständig, ein schneller Prozess ist für sie möglich. Danach würden sie der Anklage als Zeugen zur Verfügung stehen.
Die Anwälte der drei bislang schweigenden Angeklagten werden Widersprüche und Lücken in den Zeugenaussagen und der Beweisführung der Anklage suchen.
Warum schweigt die Hauptangeklagte Beate Zschäpe?
Aus taktischen Gründen. Es ist schlicht üblich, dass Verdächtige bei solch schwerwiegenden Vorwürfen die Aussage zunächst verweigern. Zschäpe hatte frühzeitig das Angebot einer Kronzeugenregelung von der Bundesanwaltschaft abgelehnt. Vielleicht glaubte sie zum damaligen Zeitpunkt wirklich noch, dass es nicht gelingen würde, ihr eine Verbindung zum NSU nachzuweisen.
Unbestritten ist aber, dass es dem Trio auf erstaunliche Weise gelang, sich fast 14 Jahre klandestin und doch öffentlich zu bewegen. Obwohl bis zum Jahr 2007 noch Fahndungsmaßnahmen liefen, haben die drei sogar darauf verzichtet, Beweismittel wie Tatwaffen und Bekennervideos nicht an einen Ort außerhalb ihrer Wohnung zu bringen.
Warum, wird Zschäpe möglicherweise im Laufe des Prozesses erklären. Sowohl ihre Anwälte als auch sie selbst haben das bislang nicht ausgeschlossen: „Ich habe mich nicht der Polizei gestellt, um nicht auszusagen“, hatte Zschäpe am 8. November 2011 gesagt, als sie sich nach viertägiger Flucht in Jena auf einer Polizeiwache meldete.
Welche Rolle werden V-Männer in diesem Prozess spielen ?
Über die Jahre haben sich mindestens zwei Dutzend V-Leute im Umfeld des Trios aufgehalten. Haben staatliche Behörden, obwohl sie von den Aktivitäten der Neonazis wussten, nicht eingegriffen? Welche Rolle spielte der hessische Verfassungsschützer, der während des Mordes in dem Kasseler Internetcafé gewesen war? Warum hielten sich zum Zeitpunkt des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße zwei Zivilpolizisten in einer Nebenstraße auf?
Für die Angeklagten sind diese Fragen von Belang, weil Fehler der staatlichen Sicherheitsbehörden ihre Strafe mildern könnten. Für die Nebenkläger geht es neben einem möglichen Schadenersatzanspruch auch darum, ob der Staat nicht doch eine Mitverantwortung für den Tod ihrer Angehörigen trägt.
Wie diskutiert die rechte Szene über den Prozess?
Die NPD ist nicht mitangeklagt, gilt aber Fachleuten als geistiger Nährboden für den NSU. Die rechtsextreme Partei streitet jede Verbindung ab: „Die Mordserie wurde von uns scharf verurteilt“, heißt es bei der NPD Sachsen. Doch Ralf Wohlleben, der zu den führenden Köpfen der Partei in Thüringen zählte, wird große Solidarität zuteil.
„Unserem inhaftierten Freund und Wegbegleiter Wolle alles Gute. Halte durch!“, verkündet das „Freie Netz Jena“ auf Twitter. Das Internetportal „Altermedia Deutschland“ beteiligt sich an der Kampagne „Freiheit für Wolle“. Ein User darf schwadronieren: „Drinnen wie draußen: eine Front.“ Zustimmung zu den Taten des NSU äußert sich in den Foren fast immer als Solidaritätsbekundung für Wohlleben. Sogar ein Lied der rechtsextremen Rockband SKD ist ihm gewidmet.
Den NSU nennt man in der Szene eine „staatliche Propagandalüge“, die Vorwürfe seien „konstruiert“. Rechte Parteien mögen sich distanzieren – die Unterstütung von Wohlleben und die Leugnung der Verbrechen findet offen statt. Viele fürchten außerdem, durch die Ermittlungen könnten weitere Gesinnungsgenossen auffliegen.
Mitarbeit: Franz Viohl
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