Es ist nicht üblich, aber es kommt schon ab und zu vor, dass Gerichtsbesucher bei Urteilsverkündungen ihre Zustimmung oder Ablehnung manifestieren. Was sich vergangenen Mittwoch aber im Gerichtssaal A 101 des Oberlandesgerichts München abspielte, war empörend und beschämend. Gerade hatte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl das lächerlich geringe Strafmaß von zweieinhalb Jahren für den wichtigsten Helfer des Zwickauer NSU-Trios, André Eminger, verkündet und dessen sofortige Freilassung aus der Untersuchungshaft angeordnet, da johlten seine in schwarze Hemden gekleideten Nazifreunde aus Sachsen und Bayern auf der Tribüne Beifall. Eine unerträgliche Demütigung für die Hinterbliebenen und Opfer des NSU-Terrors, die im Saal als Nebenkläger saßen oder sogar in Nachbarschaft der Claqueure auf der Tribüne sitzen mussten. Sie hatten schon während der Verteidigerplädoyers erschüttert zur Kenntnis nehmen müssen, dass Emingers Anwalt die Kooperation seines Mandanten mit der Zwickauer Mörderbande vor einem deutschen Gericht quasi damit entschuldigte, sein Mandant sei ein „Nationalsozialist, der mit Haut und Haaren zu seiner politischen Überzeugung steht“. Nicht nur, dass das Gericht dieses Bekenntnis eines Verfassungsfeindes in seiner Urteilsbegründung unkommentiert ließ; es folgte sogar der Sicht des Verteidigers, dessen Plädoyer die Richter offenbar mehr überzeugte als die Bundesanwaltschaft, die 12 Jahre Haft für Eminger gefordert und ihn als faktisch viertes Mitglied der Zwickauer NSU-Zelle bezeichnet hatte.
Spätestens 1998 hatte Eminger die just in die Illegalität abgetauchten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bei seinen Nazifreunden in Chemnitz kennengelernt. Offenbar der Beginn einer langen Freund- und Komplizenschaft. Eminger war es, der die drei nach Zwickau holte, ihnen dort die erste Wohnung in der Heisenbergstraße besorgte. Der die Terroristen bis zuletzt nicht allein ließ, sie bei allem unterstützte, was ihrem mörderischen Kampf gegen das System und die angebliche „Überfremdung“ der Gesellschaft half.
Wehrsport im Erzgebirge
Die drei aus Jena und der Sachse aus Johanngeorgenstadt verstanden sich prächtig. Sie teilten die gleichen rassistischen Ansichten einer vermeintlichen Überlegenheit der weißen Rasse, sie einte die Vorstellung davon, im bewaffneten politischen Kampf die gemeinsame Ideologie umzusetzen. Das Trio aus Jena als autonome, aber nicht isolierte Terrorzelle; Eminger und seine Kameraden aus Johanngeorgenstadt als bewaffnete Kampfeinheit unter dem Namen „Weiße Bruderschaft Erzgebirge“ (WBE). Die Ende der 1990er von Eminger mitbegründete WBE verstand sich als Teil des internationalen rechtsterroristischen Netzwerkes Blood&Honour, aus dem heraus sich die wesentliche Unterstützerszene des Zwickauer Trios rekrutierte. Die rassistische Bruderschaft, die Wehrsportübungen in den Wäldern des Erzgebirges durchführte, gab mindestens zwei Nummern eines fast 50 Seiten dicken Untergrundmagazins mit dem Titel „The Aryan Law & Order“ heraus. In den Artikeln – einen soll Mundlos verfasst haben – wurde zum Kampf gegen Migranten aufgerufen, dem Ku-Klux-Klan gehuldigt und der terroristische „weiße arische Widerstand“ der B&H-Bewegung propagiert. Wie die zu dieser Zeit bereits gegründete Zwickauer Zelle wollte sich auch die „Bruderschaft“ aus Johanngeorgenstadt in den nationalsozialistischen Untergrund hierzulande einreihen.
Während die WBE aber an der Unzulänglichkeit ihrer Kämpfer spätestens 2001 zerbrach, setzte die Zwickauer Zelle die gemeinsamen Ziele um. Tatkräftig unterstützt hat sie dabei neben Eminger noch ein zweiter „Bruderschaftler“ aus Johanngeorgenstadt – Matthias D., der Herbergsvater des Trios, der die Zwickauer Wohnungen in der Polenz- und in der Frühlingsstraße für die Mörderbande angemietet hatte. Gegen D. läuft noch ein Ermittlungsverfahren, eine Anklage gibt es bislang nicht. Er dürfte wie Eminger, der andere Angehörige des bundesdeutschen nationalsozialistischen Untergrunds, mit einer lächerlichen Strafe davonkommen.
Schon vor dem Münchner Urteil und erst recht danach ist die Öffentlichkeit mit den Ermittlungsbehörden hart ins Gericht gegangen. Zu Recht, denn die Bundesanwaltschaft hat im NSU-Verfahren mit ihrer frühzeitigen Festlegung, wonach es sich beim Zwickauer Trio um eine isoliert handelnde Terrorzelle handele, einmal mehr die Chance vergeben, die wahre Dimension des nationalsozialistischen Untergrunds in der Bundesrepublik aufzuklären. Wieder wurden nur Symptome bekämpft und die Ursachen verdrängt. Dabei hätte die erschütternde Grausamkeit der von der Zwickauer NSU-Zelle begangenen Verbrechen einen breiteren Ermittlungsansatz gerechtfertigt, mit dem der Staat nach Jahrzehnten des rechten Terrors endlich durchgreift. So wie er es beim linken Terror von RAF über Revolutionäre Zellen bis zur Bewegung 17. Juni getan hat, als er über Jahrzehnte mit großer Härte Unterstützer wie Sympathisanten verfolgte. Selbst dann noch, als es die Terrorgruppen längst nicht mehr gab.
Im rechtsterroristischen Spektrum hingegen verfolgt man konsequent die Einzelfalltheorie. Im Fall der Zwickauer NSU-Zelle heißt das: Es gibt eben nur die drei Terroristen, die in der Frühlingsstraße zusammengelebt haben. Immerhin hält sich die Bundesanwaltschaft mit ihrem noch laufenden NSU-Ermittlungsverfahren gegen unbekannt eine Hintertür offen, indem man dieses eher mit gebremstem Schaum geführte Verfahren mit der Suche nach weiteren möglichen Mittätern begründet.
Die wirklich entscheidende Frage aber blenden die Ermittler ebenso aus wie Politik und Behörden. Was ist eigentlich der nationalsozialistische Untergrund? Ist es eine Organisation mit fester Hierarchie? Oder ist es ein Netzwerk mit autonom agierenden Kämpferzellen? Variante eins, die Organisation NSU, ist die bequemere Variante. Dann wäre der NSU eine zeitlich begrenzte, von brutalen Wirrköpfen gebildete Gruppe, die nun zerschlagen und abgeurteilt ist. Ein kurzzeitiger Ausreißer auf der Skala des friedlichen Miteinanders der Gesellschaft, ein „Ausrutscher“. Die Akte kann geschlossen werden.
Oder muss man – Variante zwei – den rechten Terror des NSU als Produkt eines Untergrundnetzwerkes verstehen, das sich den Sturz des demokratischen Gemeinwesens zum Ziel gesetzt hat und den Weg dorthin mit Nadelstichen rassistischer Anschläge zu ebnen versucht? Im islamistischen Terrorbereich zum Beispiel wird al-Qaida schon seit Jahren von Sicherheitsexperten nicht mehr als Organisation angesehen, die Anschläge anordnet und vorbereitet, sondern als ein Netzwerk ideologisch verbundener autonomer Kämpfer und Zellen. Diese handeln auf eigene Entscheidung, greifen dabei aber auf die logistische Unterstützung ihres Netzwerkes zurück. Warum sperren sich Regierungen und Behörden hierzulande so sehr gegen die These, dass auch der rechte Terror eben nicht von einer Organisation – ob sie nun NSU heißt oder anders – ausgeht, sondern von einem in der Bundesrepublik operierenden Netzwerk des nationalsozialistischen Untergrunds inspiriert und gefördert wird? Einem Netzwerk, das seit nunmehr einem halben Jahrhundert seine blutige Spur durch dieses Land zieht und trotz der vielen Toten und Verletzten nie ernsthaft verfolgt worden ist.
Tatsächlich ist die Verbrechensserie der Zwickauer NSU-Zelle kein singuläres Ereignis. Sie ordnet sich vielmehr logisch und erwartbar ein in eine lange Kette rechtsterroristischer Morde und Anschläge. Hier ein – längst nicht vollständiger – Rückblick:
Am 20. Mai 1970 nahmen Polizeibeamte 14 Mitglieder der „Europäischen Befreiungsfront“ (EBF) fest, die Todeslisten mit linken Journalisten und Politikern führte. EBF-Aktivist Ekkehard Weil schoss am 7. November 1970 einen Wachsoldaten der sowjetischen Armee vor dem Ehrenmal in Berlin-Tiergarten nieder. Später floh er nach Österreich, wo er mit Gesinnungsfreunden im Juli 1982 Sprengstoffanschläge auf Geschäfts- und Wohnhäuser von Juden in Wien und Salzburg verübte. Im September 1977 flog die „Braunschweiger Gruppe“ der NSDAP-Aufbauorganisation (NSDAP/AO) auf, die politisch motivierte Anschläge durchgeführt und Banküberfälle geplant hatte. Der Sprengstoffbeschaffer der Terrorzelle war seit 1976 V-Mann des Verfassungsschutzes. Von 1977 bis 1984 verübte die rechte Terrorzelle „Gruppe Ludwig“ in Italien und Deutschland Morde und Brandschläge. 15 Menschen starben.
Werwölfe in Banken
Mitglieder der „Wehrsportgruppe Werwolf“ und der von Michael Kühnen geführten „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ (ANS) hatten bis 1979 unter anderem Kasernen und Banken überfallen, um Waffen und Geld zu erbeuten. Die Gruppe plante einen Anschlag auf die KZ-Gedenkstätte in Bergen-Belsen, die Befreiung von Rudolf Heß und die „Liquidierung“ von Beate und Serge Klarsfeld. 1980 töteten Mitglieder der „Deutschen Aktionsgruppen“ (DA) des Naziführers Manfred Roeder bei Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime zwei Menschen. Im Dezember 1980 erschoss in Erlangen der Vizechef der „Wehrsportgruppe Hoffmann“, Uwe Behrendt, den Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde und Verleger Shlomo Levin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke. Bereits im September 1980 hatte eine offenbar von dem Neonazi Gundolf Köhler beim Münchner Oktoberfest gezündete Bombe 13 Menschen in den Tod gerissen. Im Frühjahr 1981 war von Kurt Wolfgram und Ludwig Uhl in Frankreich das „Kommando Omega“ gegründet worden. Es plante, Verräter aus den eigenen Reihen zu liquidieren sowie Staatsanwälte und Richter zu ermorden. Aus der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ hervorgegangen war die sogenannte Hepp-Kexel-Gruppe. Ihr werden zahlreiche Banküberfälle und Mordanschläge mit Autobomben zugerechnet. 2003 konnte ein geplanter Sprengstoffanschlag der bayrischen „Kameradschaft Süd“ auf die Grundsteinlegung eines jüdischen Kulturzentrums in München verhindert werden. In die Planung war ein V-Mann involviert.
All diesen Fällen ist mit dem der Zwickauer NSU-Zelle gemein, dass die Ermittlungsbehörden die direkt beteiligten Täter ermittelten, verfolgten und – sofern man sie lebend fasste – verurteilten. Ihre Helfer und Unterstützer hingegen wurden nur halbherzig verfolgt. Die Ermittler stuften Täter und Kleinstgruppen als isoliert handelnde Personen ein. Die vielen Anhaltspunkte auf ein Netzwerk, das sie schützte und unterstützte, wollten die Sicherheitsbehörden hingegen nicht ergründen.
Es ist diese jahrzehntelange Ignoranz in der Verfolgung des rechten Terrors in der Bundesrepublik, die von den Neonazis im Zuschauersaal des Münchner Oberlandesgerichts bejubelt wurde, als der Richter ihren Gesinnungskameraden Eminger aus der Haft entließ. Diese Ignoranz wird unweigerlich zur nächsten Terrorzelle des nationalsozialistischen Untergrunds führen.
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