Der Freitag: Herr Hegemann, 100 Jahre Volksbühne sind ein Grund zum Feiern. Aber in den vergangenen Jahren war vor allem zu hören, das vorher so wichtige Theater habe seine beste Zeit hinter sich.
Carl Hegemann: Es gab, schon als wir anfingen, die Frage, ob das Theater generell seine beste Zeit hinter sich hat. Da muss man die Kirche im Dorf lassen. Wo gibt es das denn, dass ein Ort ununterbrochen der totale Hype ist. Es ist eher erstaunlich, dass da nach 100 Jahren immer noch eine so coole Atmosphäre herrscht.
Aber für das Branding Berlins ist heute das Berghain wichtiger als die Volksbühne.
Ja? Ich dachte das Berghain sei out. Die Ausstrahlung der Volksbühne über Berlin hinaus ist immer noch gewaltig. Ich war gerade bei einem großen Theaterfestival in Tokio, um Vorträge über die Volksbühne und Christoph Schlingensief zu halten. Da liefen fast alle Filme über Schlingensiefs Aktionen mit japanischen Untertiteln vor vollem Haus. Die Zuschauer konnten gar nicht glauben, was sie da sahen. Etwa wie sich in der Aktion Passion Impossible als Polizisten verkleidete Akteure mit richtigen Polizisten anlegten, in aller Öffentlichkeit. Das war für die Japaner unvorstellbar. Vor allem, dass so etwas auch noch staatlich subventioniert war. Aber es löste Bewunderung aus – und Neid.
Nicht nur Schlingensief, auch Christoph Marthaler und Frank Castorf begründeten den Ruhm der Volksbühne als Ort der Avantgarde des Regietheaters.
Dieses Theater hat den Theaterbegriff verändert. Auch durch die Dreistigkeit, mit der sich Schauspieler als sie selber auf die Bühne stellten und nicht nur als Figuren. Henry Hübchen war da der Vorreiter, der in den Räubern sagte: „Meinen Sie, ich mach das hier gerne: jeden Abend Franz Moor – seit 200 Jahren?“ – und dann das Publikum als „Kadettfahrer“ beschimpfte. Diese Perspektive hat das Theater stark verändert. Und die Theaterwissenschaft.
Inwiefern?
Nicht mehr Theatersemiotik war dort angesagt, sondern „die Ästhetik des Performativen“. Man kann sich diesen Paradigmenwechsel gut erklären, wenn man die Volksbühne mit der alten Schaubühne von Peter Stein vergleicht. Dort war das Schlimmste, was passieren konnte, dass etwas passierte. Wenn ein Bühnenteil klemmte oder der Vorhang an einer falschen Stelle zuging, war Peter Stein einen Monat lang fertig und sagte: „Ihr habt mir mein Kunstwerk kaputtgemacht.“ An der Volksbühne war es umgekehrt: Wenn etwas Unvorhergesehenes passierte, dann waren alle richtig begeistert und nutzten es für ihr Spiel.
Wie wurde dieses Theater nach der Wende zum kulturellen und subkulturellen Leuchtturm des wiedervereinigten Berlin?
Zu Beginn der 90er war die Volksbühne kein Abbild von Berlin, sondern ein Gegenbild. Und zwar ein zutiefst widersprüchliches, in sich zerrissenes. Während man im restlichen Berlin wieder zur Tagesordnung übergehen wollte und die ungelösten Probleme, Konflikte und Traumatisierungen, die es ja auch im Westteil der Stadt gab, einfach verdrängen wollte, riss die Volksbühne die Wunde wieder auf.
Wie zum Trotz wurden auf dem Dach der Volksbühne drei Buchstaben installiert: „OST“.
Wir taten das, weil es nach der Wende ja fast ein Tabu war, überhaupt noch über den Osten zu reden. Wenn man sagte, da gab es auch Gutes, und der Kapitalismus ist immer noch barbarisch, dann war das ungefähr so, als würde man sagen: Aber Hitler hat doch die Autobahn gebaut. Diese schlagartige Abwicklung und Einverleibung der DDR in das System der BRD und das plötzliche Ende eines Versuchs, an den trotz seiner bürokratischen Verkrustung eigentlich viele geglaubt hatten, auch die Dissidenten, das wollte man an der Volksbühne so nicht akzeptieren.
Wie sahen das andere Häuser?
Das Deutsche Theater etwa war darüber total erschreckt, und man sagte dort: Wir wollen nicht die Verwirrung noch steigern, wir wollen den verunsicherten Menschen Abstand und Orientierung geben. Da haben wir gesagt: Das ist ja wie im Fronttheater, wenn ihr alle wichtigen und brisanten Themen ausklammert, um bloß die Menschen nicht zu belasten. Kunst soll nicht aufbauen, disziplinieren und besänftigen.
Konnten die Berliner sich mit Ihrem Angebot identifizieren?
In Berlin hatte man irgendwann gemerkt, dass eben unser Nicht-Besänftigen Aufgabe der Kunst ist. Langsam kamen auch immer mehr Zuschauer aus dem Westen, und es begann tatsächlich so etwas wie ein Zusammenwachsen durch Polarisierung.
In den 90ern begann die Volksbühne, auch programmatisch die Idee dessen zu erweitern, was ein Theater sein kann.
Diesen Kulturhauscharakter zu entwickeln, das war komischerweise ein allgemeines Bedürfnis. Man wollte nicht nur ein gewöhnliches Stadttheater sein, sondern ein Treffpunkt, wo man immer gern hingeht. Bezeichnend ist die Konsequenz, mit der das betrieben wurde. Ich habe damals gesagt, ich veranstalte gern etwas, einmal im Monat. Aber es gehörte nach der Wende zu dieser Dynamik der Volksbühne, dass es dann sofort hieß: Nein, jeder Dramaturg muss einmal in der Woche etwas im Roten Salon organisieren. Da gab es „Nachtvideo“ und „Nachtcafé“, bei einem wurden Filme gezeigt, beim anderen gelesen. Ich habe als Dramaturg nebenbei den „Nachtrock“ organisiert, jeden Freitag um halb elf trat eine Gruppe auf. In der Spex wurde der Rote Salon auf Anhieb zum Berliner Club des Jahres gewählt.
Ein Philosoph aus dem Westen landet also in Berlin, um an einer ehemaligen Ostbühne Rockkonzerte zu organisieren?
Kann man so sagen. Allerdings war das mit den Konzerten natürlich nur ein Nebenjob. Ich war ansonsten Produktionsdramaturg, aber auch Öffentlichkeitsdramaturg. Es war eine kolossale Selbstausbeutung. Familien- oder Privatleben konnte man vergessen. Allerdings war das auch mit einer großen Freiheit verbunden. Castorf war „der Fürst“, aber jeder machte, was er wollte. Es war eine Mischung aus Monarchie und Anarchie. Als Gesellschaftsmodell würde ich das nicht empfehlen wollen, aber in der Kunst ist das wunderbar.
Der Monarch sei müde geworden, hieß es in den vergangenen Jahren oft.
Ich finde, dass man Castorf überhaupt nicht entlassen kann. Erst wenn er selber gehen will, kann ein Nachfolger eine Chance haben, sonst bekommt der an der Volksbühne nie einen Fuß auf den Boden. Dann bräche der ganze Laden zusammen, auch wenn der Nachfolger noch so toll wäre.
Lässt sich dieses Festhalten künstlerisch noch begründen?
Es gab ganz normale Abnutzungs- und Erschöpfungserscheinungen. Ich finde aber, in den letzten Jahren hat man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Castorf hat das Theater wieder als Teil seines Lebens akzeptiert, und er reflektiert auf der Bühne seine Geschichte und die Weltgeschichte gleichermaßen. Seine letzten Inszenierungen, die ich dort gesehen habe, waren allesamt hervorragend, lakonisch, weise, cool, angemessen. Und mit René Pollesch, Christoph Marthaler und Herbert Fritsch sind dort immer noch einige der wichtigsten und heterogensten Künstler versammelt, die es gibt.
Trotzdem: So wie früher wird es nie mehr werden, oder?
Das wäre eine unangemessene Intention. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluß. Damals sah es manchmal so aus, als würde ganz Berlin eine Volksbühne werden – Kunst als Auslöser des gesellschaftlichen Wandels. Unter dem jungen Klaus Wowereit und der PDS hat man so etwas vielleicht wirklich geglaubt: Arm aber sexy, mit einem Primat der künstlerischen und subversiven Praxis als Speerspitze auch der wirtschaftlichen Entwicklung, Das wäre eine Perspektive gewesen. Aber diese Chance hat Berlin wohl verpasst. Ist ja auch utopisch. Vielleicht hätte man dazu noch die Mauer wieder aufbauen müssen, anstatt sie wie neulich nur als „Lichtgrenze“ zu markieren. Mindestens drei Meter breit, als Denkmal, auf dem man Prozessionen hätte veranstalten können. Und an einigen Stellen hätte man durchfahren können. Die Mauer als Symbol der Verbindung und Durchlässigkeit.
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