Unfallgefahr

Berliner Abende Kolumne

Nach einem Chat, einem Dutzend Emails, dem Foto eines attraktiven Mannes, bin ich für einen wildfremden Mann voller Gefühle. Wo immer ich stehe, gehe, fahre, ich denke an Ismael.

Als ich am Schlesischen Tor die Straße überquere, nimmt mir ein anfahrender roter Ford die Vorfahrt. Ich rolle über die Frontscheibe, die zerspringt, ein feinmaschiges Netz aus Splittern hängt im Rahmen. Der Fahrer bremst, ich rutsche über die Motorhaube ab und steh wieder auf. Am liebsten würde ich weiterfahren, als wäre gar nichts passiert. Aber der junge Fahrer steigt aus, hat rote Flecken im Gesicht, heult fast. Von der gegenüberliegenden Straßenseite klatscht der Blumenhändler in die Hände: Ich würde dich als Stuntman engagieren! Ein Mädchen will unbedingt als Zeugin aussagen. Ein Türke: Jetzt ist der Körper noch warm, wenn er kalt ist, wird es wehtun. Eine Frau hat alles vom Balkon aus gesehen: Wo ist das Schwein?

Danke! Alles okay! Geht nach Hause! Der Chor der Mitfühlenden: Die Polizei! Der junge Fahrer: Ich bin im Unrecht! Der Chor: Rowdy!

In diesem Augenblick hält zum Glück ein Streifenwagen. Der Fahrer gibt ungefragt sofort alles zu. Belehrung durch einen Beamten: Niemand muss sich selbst beschuldigen. Ich glaube, der junge Fahrer ist mit seinem schnellen Schuldeingeständnis jetzt irgendwie doppelt im Unrecht.

Eine Polizistin zu mir: Setzen Sie sich in den Wagen. Ich glaube, mir ist nichts passiert, wozu soll ich mich setzen? Ich glaube mich nur zu setzen, weil ich die freundliche Frau nicht vor den Kopf stoßen will. Ich glaube, mein letzter Gedanke, ehe ich über die Windschutzscheibe flog, galt Ismael.

Aber ich spüre, ich habe keine Gewissheit.

Der Türke kann es nicht lassen: Der Schmerz wird kommen. Die Polizistin drängt ihn ab: Er hat einen Schock. Der Türke: Genau das will ich ihm sagen. Ich: Mir ist nichts passiert! Der Türke: Das glaubst du doch nur!

Eine gekappte Verbindung zwischen Ratio und Emotion ist ein merkwürdiger Zustand. Man kann ihn beschreiben, nicht aber ändern. Also formuliere ich weitere Glaubenssätze: Ich glaube, ich war am Weg zu einem Mittagessen mit Sandra. Ich glaube, diese Trennung vom eigenen Selbst, ist der Nährboden jeglichen Glaubens. Ich glaube, würde jetzt ein Missionar zu mir sprechen, gleichgültig welcher Konfession, mein Ohr wäre sperrangelweit offen.

Eine halbe Stunde später sitze ich tatsächlich mit Sandra über Penne All´ Arrabbiata. Ich erzähle nichts vom Unfall, Sandra bringt das Gespräch auf Verschwörungstheorien. Ich rege mich tierisch auf, weil ich nicht glauben will, dass die CIA am World Trade Center Sprengköpfe angebracht hatte und die verhinderten Terroristen von London zwar glaubten für Al-Qaeda tätig zu sein, in Wahrheit aber für den britischen Geheimdienst arbeiteten. Sandra: So kenne ich dich gar nicht! Wir kommen auf keinen grünen Zweig. Ich glaube, ich will nichts Komplexes denken. Ich glaube, ich fürchte mich vor den Rissen, die die Verschwörungstheoretiker ins Fundament reißen.

Sandra ist schon weg und ich auf der Straße, da kommt plötzlich der Schmerz. Vom rechten Fuß zieht ein Höllenfeuer. Ich winke ein Taxi: Ins Urbankrankenhaus. Tasten, röntgen, Salbe und Verband auflegen, Genesungswünsche, endlos müde sein.

Zuhause schreibe ich Ismael ein Mail: Stell dir vor, einer von uns hätte einen tödlichen Unfall und wir wären uns nie leibhaftig begegnet.

Hinlegen, nicht einschlafen können, aufstehen, schauen, ob eine Antwortmail da ist. Nichts. Den Fuß mit Eis kühlen, eine Schmerztablette einnehmen.

Im Traum treffe ich Ismael. Er sieht anders aus als auf dem Foto, verfolgt mich mit einem roten Ford durch einen Wald. Ich jage über weichen Boden, der rote Ford kommt näher. Ich versinke, weiß nicht, bedeutet das Rettung, oder endgültiger Untergang? Ich wache vom eigenen Schrei auf, bin ein hilfloses Kind, kuschle mich in die Decke, kann nur mit Licht wieder einschlafen.

Am nächsten Morgen werde ich vom Signal einer ankommenden Email geweckt. Ismael: Lass uns nicht mehr warten, heute im Park hinterm Schloss Bellevue treffen. Er beschreibt den Weg: Durchquere den Wald bis er sich zu einer Lichtung öffnet - . Ich erschrecke. Ist das der Wald aus dem Traum? Wird Ismael in einem roten Ford auf mich warten?

Mein Verstand warnt mich: Geh dort nicht hin! Du kennst diesen Mann doch gar nicht. Was sagt der Bauch? Du musst hingehen, um ihn kennen zu lernen. Die Stimme des Türken mischt sich ein: Geh hin, aber vergiss nicht, der Schmerz wird kommen. Ich: Was soll ich bloß tun? Wem soll ich bloß glauben? Wie weiß ich, was das Richtige ist?


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