Arbeiterkinder werden nicht diskriminiert

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Soziale Herkunft ist kein Diskriminierungsmerkmal. Daher können Arbeiterkinder per Definition nicht diskriminiert werden. Die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien benennen exakt, was als Diskriminierung gilt. Aufgrund eines Katalogs mit potentiellen Diskriminierungsmerkmalen kann identifiziert werden, wann eine Diskriminierung vorliegt und wann nicht. Auch Forschungsaufträge der EU haben sich an diesen Katalog zu halten.

Das Gleiche gilt natürlich für Deutschland. Auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) kennt keine Diskriminierung aufgrund klassenspezifischer Merkmale. Obdachlose, Arbeitslose, SchülerInnen oder Studierende mit niedriger sozialer Herkunft können gar nicht diskriminiert werden. Entsprechend sind die Vorgaben für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS). Antidiskriminierungsstellen, die von der ADS gefördert werden, müssen Arbeitslose, die sich über Diskriminierung beklagen wollen, zurückschicken, denn sie werden nicht diskriminiert, können gar nicht diskriminiert werden, jedenfalls sind die Antidiskriminierungsstellen nicht zuständig. Wenn Männer nicht in eine Disco gelassen werden, können sie prozessieren und erhalten eventuell 300 Euro Schadensersatz. Wenn Obdachlose bestimmte Orte in einer Stadt verlassen müssen, ist die Antidiskriminierungsstelle des Bundes nicht zuständig. Es sei denn, Obdachlose werden diskriminiert aufgrund einer Behinderung, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung usw., sie gelten aber nicht als diskriminiert, weil sie als Obdachlose abgewertet werden.

Das alles ist absurd. Eine Studie im Auftrag der ADS mit dem Titel "Diskriminierung im Alltag" kommt im allgemeinen Teil zum Schluss, dass mit sehr großen Abstand vor allem die "sozial Schwachen" (übrigens ein ähnlich diskriminierender Ausdruck wie der Terminus "das schwache Geschlecht") als diskriminiert gelten in der Wahrnehmung der Bevölkerung. Im zweiten Teil der Studie sollen aber die Diskriminierungformen genauer untersucht werden, dort sind jedoch nur die sechs offiziellen nicht-klassenbezogenen Diskriminierungsgründe aufgelistet, also lässt die Studie den ersten Teil der Studie links liegen. Ist ja auch egal, die Vorgaben zählen.

Ähnliches drohte der aktuellen Studie zum Thema "Diskriminierungsfreie Hochschule". Auch hier sollten zunächst nur Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung und Behinderung untersucht werden. Das Diskriminierungsmerkmal "Soziale Herkunft" war zunächst nicht vorgesehen. Ich intervenierte damals, da ja so ziemlich jede Bildungsstudie seit Beginn der Bildungsforschung bestätigt, dass es eine Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft gibt. Inzwischen scheint die beauftragte Prognos AG tatsächlich auch Soziale Herkunft miteinzubeziehen. Kein Wunder, denn bei den Feldern

*Hochschule in gesellschaftlicher Verantwortung:
Ausgleich ungleicher Startchancen
*Hochschule als Ort von Lehre und Forschung:
Thematisierung von und Sensibilisierung für Diskriminierungspotenziale
* Hochschule als Beschäftigungsort:
Sicherung gleicher Chancen/Vermeidung von Benachteiligung
*Hochschule als Ort der Kommunikation und
Begegnung: Sicherung von Diskriminierungsfreiheit im Umgang miteinander

liegt es auf der Hand, dass soziale Herkunft eine Rolle spielt. Und entsprechend wird die Soziale Herkunft in die Studie miteinfließen müssen.

Eigentlich müsste die ADS dafür Ärger bekommen. Schließlich hat sie Vorgaben. Und die Vorgabe ist das AGG, welches diskriminierungshierarchisch, also selbst diskriminierend ist. Die ADS überschreitet ihren vorgegebenen Kompetenzbereich. Sie muss es machen, um sich nicht der Lächerlichkeit preis zu geben. Die Frage ist, wie dann mit dem Widerspruch umgegangen wird. Diejenigen, die gegen eine Ausweitung des AGG sind, werden sich wahrscheinlich hüten, die ADS für ihre Eigenmacht anzugreifen. Also wird der Widerspruch geduldet, um Schlimmeres zu vermeiden, nämlich die Aufmerksamkeit auf den Klassismus im AGG und den Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien zu lenken.

Wer interessiert ist, mehr zu klassenspezifischer Diskriminierung im Hochschulbereich zu erfahren, der ist herzlich eingeladen zur 15. Tagung der Working Class/ Poverty Class Academics, die erstmals in Deutschland stattfinden wird, und zwar in Münster vom 08.-10. Juli 2011. Weitere Infos zur Tagung: wcpca.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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