Es wird Echtzeit!

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Google bastelt uns Science Fiction, die noch niemand geschrieben hat. Mit der Implementierung von Twitter, MySpace und FaceBook in die Suchergebnisse gibt es keine Verzögerung von Informationen mehr. Sieht eigentlich sehr harmlos aus, die neue Google-Suche, ist aber eventuell eine neue Qualität im Fortschritt der Technologischen Formation.

Technologische Formationen waren stets geprägt von aufeinanderfolgenden Boss-Dispositiven. War von der Antike bis zum Mittelalter Form und Geist das bestimmende Moment, auf das die Materie reduziert wurde, so sorgte der Kapitalismus allmählich für eine Dynamisierung dieses primären Welterklärungsprinzips: alles wurde zur Energie, zumindest bis zur Energiekrise. Seitdem wird die Technologische Formation unserer Gesellschaft durch etwas erklärt, was noch dynamischer als Energie ist. Gibt es etwas dynamischeres, etwas fluideres als Energie? Aber sicher doch: die Information.

Aber hier ist noch kein Ende an Dynamisierung erreicht. Während meine Generation noch mit der Energie-Krise aufwuchs, und ein ambivalentes Verhältnis zur Energie entwickelte (Alternativ-Energie), wachsen die heutigen Digital Natives mit der Informations-Krise auf. Die Grünen von 1980 sind die Piraten von heute. Informations-Krise, das heißt nicht nur Zeitungssterben, sondern ganz aktuell auch Wikipedia-Krise (die sich sehr negativ auf meinen E-Mail-Account auswirkt, da seit zwei Wochen heftigst über den Wikipedia-Verteiler diskutiert wird).

Doch was dynamisiert die Information? Die Verechtzeitigung der Information? Verhält sich Echtzeit zur Information wie sich Information zur Energie verhält und wie sich Energie zur Form verhält? Es scheint so. Oder ist die Relevanz das Zauberwort der kommenden Tage? Die Wikipedia-Krise ist eine Relevanz-Krise. Und Kritiker fürchten, dass die Echtzeit-Implementierung in der Google-Suche zu einem Rauschen der Irrelevanz führt. Die Kombination von Echtzeit und Relevanz wird die Information dynamisieren. Wie aber wird herausgefunden, was relevant ist? Bei Wikipedia wurden die Relevanzkataloge durch den Kakao gezogen - mehr oder weniger zurecht. Bei Google-Knol, was keine Wikipedia-Konkurrenz im Sinne einer Verdrängungskonkurrenz ist, sehr wohl aber eine Konkurrenz in der Frage "Wer baut das bessere Relevanz-System", wird die Relevanz der Artikel weitgehend über die AutorInnen der Artikel hergestellt. Ist die Autorisierung (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) die Dynamisierung der Information? Erhalten nach und nach alle Menschen einen PageRank, d.h. einen Rang in der Wertigkeit der Relevanz dessen, was sie zu sagen haben, und werden so bezüglich ihrer Informationen autorisiert? Das ist der Trend. Dachte ich bislang noch, Wikipedia und Google führten direkt zur Entstehung der Borg, so glaube ich jetzt (hier und jetzt in der Echtzeit meines Schreibflusses), dass kein Kollektiv der Gleichheit entsteht.

Das Internet wird die Menschen autorisieren, in AutorInnen verwandeln, und Google wird mit seinen Algorithmen die Grundlage liefern Menschen individuell zu autorisieren, zu verpageranken, um relevante Stimmen im Rauschen hörbar zu machen. Der individuelle PageRank bringt die bourdieuschen Kapitalsorten durcheinander. Dieser Science Fiction wurde noch nicht geschrieben.

Apropos SF: Möchte noch jemand ne Wave? Hab noch ein paar Einladungen über für AutorInnen in meiner PageRank-Klasse ;-)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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