Gotcha, Trauma! Gotcha!

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Die Bundesregierung plant ein Verbot von Gotcha, auch bekannt als Paintball, auch bekannt als "Cowboy-und-Indianer-Spiele-für-Erwachsene". Kurios. Denn gleichzeitig kann man in Deutschland bereits mit 17 in den Militärdienst eintreten - womit Deutschland von den UN auf der Liste der Staaten mit Kindersoldaten zu finden ist. Der Grund für das Spiel-Verbot: die sich häufenden Amokläufe. Diese Idee ist so absurd, ich würde mir am liebsten eine Zehnerkarte besorgen, um meine Wut über eine derartige Inkompetenz bei einem Paintball-Spiel abzureagieren.

Spiel und Stress

Als Kind habe ich oft "Cowboy-und-Indianer" gespielt, rund um unsere Arbeitersiedlung mit den ca 100 Kindern gab es kleine Wäldchen und Sanddünen, die ideal dafür geeignet waren, sich an den Gegner heranzupirschen und ihn abzuballern. Es gab auch verschiedene Banden, die allerdings nicht miteinander spielten, sondern sich ernsthaft gegenüberstanden. Bei den Hauereien ist nie jemand verletzt worden. Den größten Stress machten uns allerdings nicht die großen Brüder der gegnerischen Bande, sondern die nervigen Hausaufgaben und Verwandtenbesuche, die uns von den wichtigen Dingen des Lebens (Spielen und Fernsehgucken) abhielten. Spielen macht Spaß und hätte es erschwingliche Spielzeugwaffen mit Farbmarkierungsmunition gegeben: jeder von uns hätte sich liebend gerne damit vollgesaut.

Gesellschaftliches Trauma

Meine Kindheit war jedoch nicht so "unbeschwert" wie sie oben klang. Unsere Gesellschaft ist nach wie vor geprägt von brutaler Gewalt und Diskriminierung. Ich hatte als Kind Symptome, die auf ein prägendes traumatisches Ereignis hindeuteten. Aber trotz verschiedenster Therapieerfahrungen kam keine verschüttete Erinnerung hoch. Ein Therapeut wies mich jedoch darauf hin, dass ich vielleicht mit dem Trauma meines Vaters und nicht mit einer eigenen traumatischen Erfahrung zu kämpfen hätte. Gotcha! Er hatte das Trauma erwischt und markiert. Meine Oma wurde als Mädchen, im Büro der Fabrik, in der sie arbeitete, vergewaltigt. Mein Vater wurde wenige Jahre später geboren. Unehelich und das auch noch mitten in der Nazizeit. Ich weiß nicht, aus welchem Grund meine Urgroßeltern dann die irrsinnige Idee umsetzten, meinen Vater großzuziehen und ihn bis zu seinem 17. Lebensjahr in den Glauben zu lassen, sie seien seine Eltern und seine Mutter seine Tante. Ich habe erst nach seinem Tod davon erfahren und kann erst jetzt die schrägen Verwandtenbesuche einordnen und bin mir sicher, dass ich ebenfalls an dieser Geschichte zu "knacken" hatte. Nachgewiesen sind transgenerationale Weitergaben von Traumata inzwischen bis in die vierte Generation. Und auch über die Effekte der Traumatisierung auf Lebenspartner gibt inzwischen eine gute Forschungslage und Verhaltensratgeber. Dennoch wird Traumatisierung als ein individuelles Problem gehandhabt und es fehlt die Perspektive auf Traumatiserung als Gesellschaftliches Trauma.

Lasst die Kinder spielen!

Ich gehe davon aus, dass jede traumatisierende Gewalttat das unmittelbare soziale Umfeld und die nachfolgenden Generationen kontaminiert. Gewalttätigkeiten kummulieren sich und bilden Interferenzen. Die deutsche Kultur ist geprägt von Gewalt, von den verlorenen Bauernkriege, der einsetzenden Refeudalisierung, dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg bis hin zur Schwarzen Pädagogik nicht nur in den Kadettenanstalten und dem Höhepunkt der Gewalt im Nationalsozialismus. Gewalt, Gewalt, Gewalt, Gewalt. Das ist Deutschland. Ich befürchte, dass meine Generation die einzige Generation in Deutschland bleiben wird, wo die Aufarbeitung von Gewalt und Traumatisierung gesamtgesellschaftlich größer gewesen ist als die Neuzufügung von Gewalt. Ausgerechnet eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung ist zu dem Schluss gekommen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben und dass die Mittelschicht ihre Kinder drillt und von den "Schmuddelkindern" fern hält. Die Schulzeiten haben sich verlängert, der durchzunehmende Stoff ist nicht nur angestiegen, sondern zudem auf 12 statt 13 Schuljahren verdichtet. Nach der Schule gibt es Nachhilfe und Vereine und Kurse. Zeit fürs Spielen hat man keine und wenn man sie hat, hat der Freund keine Zeit. Wenn ich mir vorstelle, ich würde heute als Kind groß werden... ich wüßte nicht, wo ich die Zeit her nehmen sollte, die komischen Ungereimtheiten meiner Eltern spielerisch aufzuarbeiten. Spielen und Möglichkeiten zum Entlasten und für Unbeschwertheiten sind wichtig.

Zum Amokläufer wird man, wenn man nicht mehr im Spiel ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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