Herkunft bestimmt ganz sicher nicht

Klassismus Ein aktueller Vorfall an der Uni Münster zeigt: nicht die Herkunft von Arbeiterkindern bestimmt ihren Bildungsweg, sondern die Bekämpfung ihrer Selbstorganisierung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Dankenswerter Weise hat der Freitag eine Reihe zum Thema "Herkunft bestimmt" publiziert.
Allerdings fehlte ein wichtiger Aspekt, nämlich die disziplinäre Macht (Foucault) gegenüber Arbeiterkindern. Wenn Herkunft bestimmt, warum schließen sich dann nicht Arbeiterkinder zusammen und verändern die Bedingungen? Weil Arbeiterkinder genau das nicht tun sollen.

Als in Münster vor über zehn Jahren versucht wurde, ein Referat für Arbeiterkinder zu gründen, sind die Initiatoren so massiv aus dem Internet angegriffen worden, dass schließlich die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde. Alle, auch die linken Listen, waren dagegen, dass Arbeiterkinder eigenständig Vollversammlungen durchführen und auf dieser Grundlage ein eigenes Referat erhalten sollten. Erst als es dann trotzdem eine Vollversammlung gab und diese sehr gut besucht war, entschied sich der AStA, probeweise ein Referat für Arbeiterkinder einzurichten. Allerdings war der Begriff "Arbeiterkinder" nicht durchsetzbar, jedenfalls nicht, wenn diese dann bildungspolitisch aktiv werden wollten. Das Referat bekam daher in Anlehnung an Pierre Bourdieus Kapitalsorten-Konzept den etwas komplizierten Titel Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende.

Neun Jahre später hatten sich die politisch selbstorganisierten Arbeiterkinder mit weit über hundert Veranstaltungen und intervenierenden Arbeit in der Studierenschaft Respekt verschafft. Auf der letzten Vollversammlung der studierenden Arbeiterkinder wurde daher einstimmig gefordert, dass nach neun Jahren Probezeit das Studierendenparlament entscheiden solle, ob Arbeiterkinder auch in der Satzung anerkannt und damit den anderen Gruppen mit einer Selbstorganisierung (Ausländische Studierende, Frauen, Schwule, Lesben, chronisch kranke und behinderte Studierende) gleichgestellt werden solle. In langen und zähen Diskussionen über drei Lesungen fällte schließlich das Studierendenparlament seine Entscheidung: einstimmig wurde beschlossen, die Selbstorganisierung von Arbeiterkindern anzuerkennen - nach neun Jahren Praxis wurden sie endlich gleichgestellt.

Dieser Beschluss wurde umgehend vom Rektorat der Uni einkassiert. Arbeiterkinder können gar nicht selbstorganisiert sein, da sie sich gar nicht definieren lassen und daher auch nicht in eine Satzung aufgenommen werden können.

Es ist nicht einfach so, dass irgendwelche diffusen Gründe dafür sorgen, dass irgendwie wenig Arbeiterkinder studieren. Es liegt auch nicht an irgendwelchen Informationsdefiziten. Die Ursache der Bildungsbenachteiligung liegt in der Fremdbestimmung von Arbeiterkindern, in der Produktivität der klassendisziplinären Macht: Arbeiterkinder haben sich nicht politisch selbst zu organisieren, selbst zu bestimmen. Wenn sie sich überhaupt zusammenschließen dürfen, dann nach vorgegebenen Normen: mit einer deutlich unpolitischen Ausrichtung als defizitäre Wesen, wie beispielsweise bei Arbeiterkind.de.

Einer politische Selbstorganisierung von Arbeiterkindern wird die Anerkennung verweigert: von den Medien, den Stiftungen, den Uni-Leitungen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden