Kinderlosigkeit von Akademikerinnen?

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Wiedereinmal schrillen in Deutschland die Alarmglocken. Es werden immer weniger Kinder geboren. Vor allem in Westdeutschland seien Akademikerinnen kinderlos, wird vom Statistischen Bundesamt verlautbart.

Schaut man sich die Zahlen genau an, so sind 28% der Akademikerinnen, die zwischen 1959 und 1968 geboren wurden, kinderlos gegenüber 19% der Frauen in der gleichen Alterskohorte. Hierzu möchte ich zwei Punkte anmerken. Erstens: es war doch mal die Rede von 40% und zweitens: die Frauen, die zwischen 1959 und 1968 geboren wurden, bekommen in der Regel nicht in den Jahren 2008 oder 2009 Kinder, die Zahlen spiegeln die "Gebärraten" der 1990er Jahre. Diese aktuellen Zahlen des Mikrozensus sind wie ein Blick ins Weltall: sie zeigen die Vergangenheit und nicht die Gegenwart!

40% oder 28% ist doch für Ideologen egal...

Zum einen geht es hier um Ideologie. Angela Merkel rechtfertigte vor wenigen Jahren die Einführung des sozialeugenischen Elterngeldes vor dem Arbeitgebertag mit einer angeblichen Akademikerinnen-Kinderlosigkeit von 40%. Die Zahl war natürlich falsch. Aber als es 2005 darum ging, die Richtlinien für eine "Nachhaltige Familienpolitik" als moderne Variante des konservativen Familialismus durchzusetzen, kümmerte man sich nicht so sehr um Richtigkeit von Zahlen, sondern man verwandte sie auch mit gespielter Weltuntergangsempörung trotz der Interventionen der StatistikerInnen weiter. Jetzt also die neue Zahl: 28% der Akademikerinnen der Alterskohorte der 40-49jährigen sind kinderlos und nicht etwa 40%. Egal, wie die Reaktionen beispielsweise in der Zeitung "Die Welt" zeigen: auch diese Zahl reicht für Forderungen aus, dass "Asoziale Frauen" eine Sondergebühr zu zahlen hätten und dass gefälligst nicht so viele Frauen studieren sollten.

Akademikerinnen bekommen aktuell überdurchschnittlich viele Kinder

In einem Interview, welches ich mit Prof Rainer Hufnagel-Person führte (erscheint im August in der Zeitschrift "The Dishwasher"), legte er mir dar, weshalb die propagierten Zahlen nicht aussagekräftig sind. Es liegt ganz einfach daran, dass die Frauen, die zwischen 1959 und 1968 geboren wurden, nicht alle 2009 ihre Kinder bekommen haben, sondern sehr viel früher. Die meisten 40-49jährigen Frauen haben ihre Kinder vor 15 bis 20 Jahren bekommen. Es wird also mit dem aktuellen Mikrozensus auf einen Zeitabschnitt rekurriert, der in den 1990er Jahren anzusiedeln ist und die Fertilitätsraten dieser Zeit wiedergibt. Nach Rainer Hufnagel-Person zeigen diese Zahlen lediglich, dass in den 1990er Jahren Akademikerinnen unterdurchschnittlich viele Kinder bekommen. Seine Untersuchungen bestätigen dies. Aber sie zeigen auch, dass die Zahlen für heute absolut nicht mehr stimmen. Seit ca 10 Jahren hat die Gruppe der Akademiker überdurchschnittlich oft Kinder und seit ein paar Jahren hat auch die Gruppe der Akademikerinnen überdurchschnittlich oft Kinder. Durch die staatlichen Transferleistungen zugunsten derer mit hohen Einkommen und zulasten derer, die wenig oder gar kein Einkommen haben, wird dieser Trend noch gepusht.

Dem Bundesamt für Statistik dürften sowohl die Studien von Rainer Hufnagel-Hufnagel bekannt sein als auch die konservative Ideologisierung der statistischen Zahlen. Warum hat das Bundesamt nicht darauf hingewiesen, dass die aktuellen Daten auf die "Gebärfreudigkeit" aus den 1990er Jahren verweisen und nichts zur aktuellen Situation aussagen? Macht sich das Bundesamt zum Erfüllungsgehilfen einer konservativen Familienpolitik?

Sozialeugenik

Zum Abschluss noch eine Bemerkung zur Vokabel "Sozialeugenik". Es ist keine rhetorische Floskel. Die Demografisierung der Sozial- und Familienpolitik ist mit dem Wort "sozialeugenisch" treffend beschrieben. Sozialeugenik meint, die Bevölkerung in Bevölkerungsgruppen aufzuteilen, diese als mehr oder weniger wertvoll zu kategorisieren und bevölkerungspolitisch in der Weise einzugreifen, dass die "wertvollere Bevölkerungsgruppe" größer und die weniger wertvolle geringer wird. Mit dem Elterngeld wurde genau dies gemacht und zwar ganz offen mit der Begründung, dass in Deutschland die "Falschen" die Kinder bekommen. Es wurde quasi eine "dysgenische Entwicklung" festgestellt, der bevölkerungspolitisch durch ein Umlenken der Transferleistungen entgegengewirkt werden müsse. Dies geschah nicht pronatalistisch. Es geht nicht nur darum, mehr Geld für das Kinderkriegen zur Verfügung zu stellen, sondern auch "weniger wertvollen Bevölkerungsgruppen" Transferleistungen zu entziehen. Daher bekommen ALG-II-Empfängerinnen heute mit dem Elterngeld nur noch die Hälfte von dem, was sie vormals mit dem sozialkompensatorischen Erziehungsgeld erhielten. Daher bekommen gutverdienende Eltern heute bis zu sechsmal so viel an Transferleistungen vom Staat als arbeitslose Eltern. Sie gelten dem Staat in seinem demografisierendem Denken als wertvollere Bevölkerungsgruppe, die sich daher biologisch fortpflanzen soll. Sozialeugenik. Dass die Zahlen nicht stimmen, ist hierbei egal. Die Sozialeugenik ist in ihren Konjunkturen nicht von statistischen Erhebungen abhängig.

Siehe auch: OECD versteht deutsche Sozialeugenik nicht

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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