Klasse statt Masse: Sarrazin bei Stuckrad-Barre

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Das ZDF bringt heute abend nun doch die Sendung, in der Thilo Sarrazin Benjamin von Stuckrad-Barre ein "Josef Goebbels"-Zettel auf die Stirn klebte. Wie weit dies inszeniert gewesen ist, sei dahin gestellt. Kein Zufall jedoch ist, dass Stuckrad-Barre ausgerechnet mit Sarrazin seine Talkshow startete.

"Tristesse Royal"

Benjamin von Stuckrad-Barre gehört zu den Popliteraten, die vor zehn Jahren "von oben herab" Literatur betrieben, sich im Hotel Adlon räkelten und darüber schwadronierten, wie schön es doch sei, sich endlich damit brüsten zu können, Putzfrauen zu haben, die zuhause für Ordnung sorgen. Sie konzipierten klassistische Prosa vom feinsten und verschwanden im Laufe der Zeit zurecht von den Bestsellerlisten. Für Interviews waren sie noch einige Zeit zu haben, um dort ihre Ansichten zum Besten zu geben wie beispielsweise Joachim Bessing in der WELT vom 19. April 2006 unter dem Titel »Klasse statt Masse«:

»Gefördert werden muß nicht die Masse an Kindern, sondern das Bewußtsein jener Klasse, deren Nachwuchs wir dringend benötigen. Nicht die ohnehin bereits am staatlichen Tropf hängen, sollen die Kinderlein kommen lassen. (…) Wir brauchen ein reproduktives Bürgertum. (…) Wer es sich nicht leisten können wird, sein Kind auf eine private Schule zu schicken, der macht sich schuldig an dessen winkelig sich gestaltendem Werdegang.«

In dem Buch "Klassismus. Eine Einführung" machte ich auf diese Klassendiskriminierer aufmerksam, leider konnte ich nicht mehr auf ein weiteres Interview verweisen, welches ebenfalls unter dem Titel "Klasse statt Masse" firmierte und welches Thilo Sarrazin dem Chefredakteur von "Lettre-International" gab. "Wir brauchen ein reproduktives Bürgertum" - das könnte durchaus als Kernaussage des Lettre-Interviews als auch des Bestseller-Buchs "Deutschland schafft sich ab" durchgehen.

"Rockstar Sarrazin"

Stuckrad-Barre schafft es im Vergleich mit ihm selbst, Thilo Sarrazin symphatisch wirken zu lassen. Immerhin wirkt Sarrazin authentisch gegenüber den auf hohle Äußerlichkeiten abzielenden Benjamin. Wenn der "Josef Goebbels" auf der Stirn Benjamin von Stuckrad-Barres nicht abgesprochen war, dann war dies eine durchaus symphatische Geste, mit der Sarrazin aus dem infantilen Gehabe auszubrechen versuchte: wie sonst soll man mit einem Heiopei umgehen?

Stuckrad-Barre zeigte durch seinen Beitrag in der WELT-online vom 11. April 2010, dass Sarrazin ihn fasziniert. "Rockstar der SPD" nannte er ihn in seinem Artikel über die Buchvorstellung Ulrike Herrmanns, wo Sarrazin eigentlich nur beigeordnet war. Ulrike Herrmann hatte ihr Buch "Hurra, wir dürfen zahlen – der Selbstbetrug der Mittelschicht" vorgestellt, ein Buch, welches ich durchaus einreihen würde in die Liste der 10 Bücher, die man statt des Buches von Sarrazin lesen sollte.

Stuckrad-Barres Wahrnehmung basiert auf Äußerlichkeiten:

Da kommt endlich auch Ulrike Herrmann, die formale Hauptperson dieser Veranstaltung, sehr überzeugend als „taz-Wirtschaftskorrespondentin“ kostümiert: Hochwasserjeans, rotes Reißverschluss-Sweatshirt, Rucksack, sogenannte praktische Kurzhaarfrisur.

Und er ist einer dieser Zuschauer anhand derer Ernst Bloch den Begriff "Ungleichzeitigkeit" erfand und dies mit einem Rededuell eines Kommunisten und eines Nazis im Sportpalast erörterte: der Nazi gab dem Kommunisten geschickt den Vorrang und der Kommunist brachte Zahlen, Statistiken, prangerte damit den Kapitalismus an: Kältestrom, analytisch korrekt. Dann kam der Nazi und sprach den tristen Alltag der im Saal sitzenden Mittelschicht an. Sie würden im Büro sitzen, als Buchhalterinnen und Buchhalter...

"...was tun Sie denn den ganzen Tag? Sie schreiben Zahlen, addieren, subtrahieren usw., und was haben Sie heute gehört vom Vorredner? Zahlen, Zahlen und nichts als Zahlen."

Dann kam er auf den Führer zu sprechen und auf seine Ideen und der Saal tobte. Rockstar Hitler. In dieser Weise argumentiert Stuckrad-Barre:

Die SPD ist schon einigermaßen verrückt, ausgerechnet so jemanden mit einem Parteiausschlussverfahren zu behelligen, einen der wenigen, der mal aus der Blabla-Deckung kommt, der große Zustimmung und immense Abscheu evoziert, der, mit anderen Worten: überhaupt interessiert; wenn der Begriff „parteischädigendes Verhalten“ ernst gemeint wäre und nicht bloße Bestrafung vom Mittelmaß abweichender, also interessanter Gedanken, dann träfe er doch eigentlich weniger auf Sarrazin oder auch Wolfgang Clement zu als auf Andrea Ypsilanti, denkt man so vor sich hin und schweift also davon mit den Gedanken, während Ulrike Herrmann allerlei schockierende Zahlen aufführt, Statistik-Müll, man kennt das ja aus politischen Talkshows: „Ich möchte nur mal eine Zahl nennen“, heißt es dann immer, es folgen dieser Ankündigung aber stets mindestens zehn solcher Zahlen; Prozent, Millionen, Milliarden, Bundesbürger, Euros – auf Zuschauer wirkt das in der Regel wie Schäfchenzählen. Sarrazin krault sich den Schnurrbart und sagt lange gar nichts.

Natürlich sind weder Stuckrad-Barre noch Sarrazins Nazis. Sie sind Klassisten. Sie scheinen gar nicht interessiert an den Problemen von Menschen mit wenig Ressourcen. Sie können aufgrund ihrer ungleichzeitigen Verfasstheit gar nicht aktuelle soziale Probleme aus der Position der Benachteiligung denken. Es gelingt ihnen nicht, Ulrike Herrmanns Argumentation wahrzunehmen.

Sozialeugeniker

Ulrike Herrmann machte ihrerseits in einem sehr klaren Artikel Thilo Sarrazin, der Eugeniker. Die Gene sind schuld auf den eugenischen Diskurs in Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" aufmerksam: dass er Galton zitiere und vor "dygenischen Effekten" warne, aber bewusst die Vokable "Eugenik" vermeide.

Stuckrad-Barre hingegen zitiert aus dem Lettre-International nicht die biologistischen Zuschreibungen, sondern nur Aussagen zu Kopftuchmädchen und Gemüsehändler. Stellvertretend für die Mittelschicht zeigt er, dass Aussagen wie "das Problem der Unterschicht müsse sich auswachsen" oder Bemerkungen über die Vererblichkeit von Intelligenz, keine Aufreger sind, sondern unterschwelliger Konsens, weniger bemerkswert als Krawatten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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