Sarrazin - Führen wir die falsche Debatte?

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Sarrazin beklagt in seinem Vorwort zur Taschenbuchausgabe, dass die Islamdebatte zu seinem Buch die Kernthesen zur "vererblichen Intelligenz" der "Unterschicht", ihrer problematischen Fruchtbarkeit und den daraus zu ziehenden Konsequenzen für den Sozialstaat verdrängt hätten.

An Sarrazins Buch oder seinem Lettre-Interview kanns nicht liegen, dass nur ein problematischer Teil seines Buches prominent diskutiert wurde, die Eugenik-Forderungen hingegen nicht. In diesem Artikel Thilo Sarrazin bekräftigt seine Eugenik-Thesen gehe ich der Frage nach, woran das liegen könnte.

Ich würde euch als Freitag-Communtiy auch gerne fragen, ob wir die falsche Debatte geführt haben?

Selbst Sarrazins Hinweis auf Verdrängung wird verdrängt

Sarrazins "Juden-Gen" hat sofort für internationalen Protest gesorgt. Sarrazins Ausführungen zu den "produzierten Kopftuchmädchen" und den "Gemüsehändlern" hat zu einer langanhaltenden "Integrationsdebatte" geführt mit einer Reihe von Publikationen. Selbst jetzt nach dem deutlichen Interview, liest man Schlagzeilen wie: "SPD-Politiker Sarrazin steht zu Migrations-Thesen‎ " oder Sarrazin hält Aussage zu "Juden-Gen" für Fehler.

Seine eigentliche Aussage, dass die bevölkerungsbiologischen Thesen verdrängt wurden, wird mit einer neuen Verdrängung beantwortet.

Es kann nicht an der Brisanz der Thesen liegen. Vor wenigen Jahren verwies der Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes, welches nur zu 5% Arbeiterkinder unterstützt, auf die Vererblichkeit der Intelligenz. Das Erziehungsgeld wurde vor wenigen Jahren abgeschafft und durch das Elterngeld ersetzt, weil man sich die Kinder von den richtigen Eltern wünscht. Es ist ja nicht so, dass Sarrazins Eugenik-Thesen weltfremd oder jenseits der zur Zeit praktizierten Politik formuliert würden. Aber es wird hingenommen. Wo waren die Großdemonstrationen gegen das Elterngeld? Wo waren die Demonstrationen der Studierenden gegen das neue Stipendiengesetz? Wo blieb die entsetzte Intervention der Erziehungswissenschaftler_innen gegen die Wiedereinführung des Begriff "Bildungsunfähigkeit"?

Der Eugenik-Hund schläft nicht

Es mag sein, dass die Sarrazin-Debatte eine islamophobe Meute getriggert hat. Aber diese Leute verfügen auch über ein Repertoire begabungsbiologistischer Zuschreibungen. Zum Rechtspopulismus und Neonazismus gehören essentiell auch die von Sarrazin geäußerten Ansichten zur Vererblichkeit der Intelligenz. Man hätte sich mit diesen Leuten in der gleichen Weise über den Islam wie über die Intelligenz streiten können. Man hat darauf verzichtet, allerdings nicht, um keine "schlafenden Hunde" zu wecken, denn Elterngeld und Hamburger Schulkampf zeigen ja, dass da gar kein Schlaf vorliegt, sondern eine eifrige Betriebssamkeit ohne nachhaltige Gegenwehr.

Erst jetzt, anderthalb Jahre nach dem Erscheinen von "Deutschland schafft sich ab", zweieinhalb Jahre nach dem Lettre Interview erscheint erstmals ein Sammelband, der sich kritisch mit dem auseinandersetzt, was Sarrazin selber seine Kernthesen bezeichnet: mit seinen erbbiologischen Versatzstücken aus dem Mainstream-Eugeni-Diskurs. Michael Haller, Martin Niggeschmidt (HG): Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz. Von Galton zu Sarrazin. Die Denkmuster und Denkfehler der Eugenik.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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