Warten auf Galton - warum in Wikipedia Sarrazin kein Eugeniker ist

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Dass Wikipedia nicht neutral ist, nie neutral war und niemals neutral sein wird, machen die beiden Wikipedia-Streiks von it.Wikipedia.org und en.Wikipedia.org mehr als deutlich. Wikipedia steht als Enzyklopädie-Projekt in der Tradtion der Aufklärung und richtet sich damit gegen die Zensur-Bestrebungen der Potentaten. Dass Wikipedia den Neutralitäts-Anspruch vor sich herschiebt, hat allerdings damit zu tun, dass nur ein enzyklopädisches Projekt so bedeutend werden kann, wenn es neutralistisch vorgeht. Oder anders gesagt: Wikipedia ist nicht aufgrund seiner Macher_innen, Programmier_innen, Autor_innen so bedeutend geworden oder aufgrund seiner Richtlinien. Sondern deswegen, weil die technischen Rahmenbedingungen, das Internet mit den Möglichkeiten, Wikis zu schreiben und Suchmaschinen wie Google zu nutzen, eine Online-Enzyklopädie genau dann nach vorne pushen würde, wenn sie sich betont wertneutral geben würde.

Das heißt aber noch lange nicht, dass das Neutralitätsgebot auf Wikipedia auch gut funktioniert. Eigentlich funktioniert es gar nicht. Das Prinzip geht so:

Vladimir möchte gerne einen Artikel um einen Absatz ergänzt wissen und stellte diesen Absatz rein. Estragon ist dagegen und löscht ihn, Vladimir stellt ihn wieder rein, Estragon löscht ihn wieder. Das nennt sich Edit-War und ruft die Admins auf den Plan. Der Admin stellt irgendeine Position wieder her, wie es ihm passt. Er schillt einen oder beide Kontrahenten als Kindergartenkinder, wie es ihm passt und sperrt vielleicht einen von beiden oder beide, je nach Laune. Estragon und Vladimir müssen sich dann gemeinsam auf einen Artikel-Inhalt einigen. Der, dessen Version gerade online ist, ist dabei fein raus. Sagen wir der Admin hat Vladimirs Abschnitt gelöscht. Vladimir muss jetzt argumentieren. Estragon schaut sich die Argumente an und sagt "Nö". Vladimir bringt neue Argumente. Estragon bleibt beim "Nö" und amüsiert sich. Vielleicht, wenn Estragon gut drauf ist, lässt er sich auf sowas ein wie: "Naja, die Faktenlage ist noch sehr unübersichtlich, warten wir mal ab, wie es in 20 Jahren aussieht".

Schaut man sich beispielsweise den Artikel zu Thilo Sarrazin an, dann fällt auf, dass die ganze Eugenik-Debatte fehlt. Es wurde ein entsprechender Abschnitt hineingenommen und wieder gelöscht. Es gibt auch keine Möglichkeiten, diesen Absatz mit Verweis auf reputable Quellen wieder reinzunehmen. Ein einfaches "Nein" von jemanden, der in der Diskussion mitschreibt, reicht aus. Argumentation zählt nicht. Neutralität in Wikipedia heißt: die Autor_innen in Wikipedia müssen sich auf irgendwas einigen. Da die meisten Wikipedia-Autor_innen anonym schreiben, stehen sie nicht einmal mit ihrem Namen für das "Nein" ein. Sie müssen sich nirgends verantworten. Hier das Beispiel zur Diskussion über eine Kategorie Eugenik bzw. über eine Absatz zur Eugenik-Diskussion in Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Thilo_Sarrazin

Letztlich bliebe dort nur noch die Möglichkeit, dass Franzis Galton aus seinem Grab aufstiege und Sarrazin offiziell zu seinem Eugenik-Jünger erklärt. Aber selbst das würde wahrscheinlich nichts ändern.

Natürlich entstehen trotzdem Artikel in Wikipedia und Artikel werden ergänzt. Ich befürchte jedoch, dass Wikipedia zunehmend versteinert. Die Fronten werden sich verhärten und mittendrin sind entnervte Admins, die nur ihre Ruhe haben wollen.

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Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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