Der Präsident steht Schlange

Kuba Die Nationalversammlung debattiert eine neue Verfassung, um bisherige Reformen zu verankern. Das Mantra lautet dabei Kontinuität
Ausgabe 33/2018

Seit drei Monaten hat das Land einen neuen Präsidenten und wohl bald auch eine neue Verfassung. Mit Miguel Díaz-Canel, dem Nachfolger von Raúl Castro, steht erstmals seit der Revolution jemand an der Spitze einer Regierung in Havanna, der nach 1959 geboren wurde und nicht den Namen Castro trägt. „Unter Raúl haben sich schon eine Menge Dinge geändert“, sagt der Sänger und Songwriter Jorge García. „Ich weiß nur nicht, ob zum Guten.“ Unbestritten könnten Kubaner nun reisen oder ihr eigenes kleines Business starten, nur würden die sozialen Unterschiede, die es immer gegeben habe, jetzt sichtbarer, so der Mittdreißiger. Vieles sei teurer geworden, aber die Kubaner verdienen weiterhin dasselbe.

Als Raúl Castro 2008 das Präsidentenamt von seinem Bruder Fidel übernahm, setzte er einen vorsichtigen Reformprozess in Gang. Die Wirtschaft wurde für ausländisches Kapital geöffnet, der Staatssektor geschrumpft, deutlich mehr Privatinitiative zugelassen. Über eine halbe Million Kubaner haben sich, seit im Oktober 2010 Kleinunternehmer für zulässig erklärt wurden, selbstständig gemacht, zumeist im Dienstleistungssektor oder im Handwerk. Einer davon ist Sergio Machado. „Früher arbeitete ich als Fleischer für den Staat und verdiente umgerechnet zehn Dollar im Monat“, erzählt der 56-Jährige. „Jetzt habe ich eine Privatlizenz und bin Tischler. Ich verdiene nicht viel, aber genügend zum Leben. Mir persönlich geht es besser. Nicht nur mir, vielen anderen auch, seit es möglich ist, auf eigene Rechnung zu arbeiten.“

Rückkehr zur Feindschaft

Ani Esther Pacheco dagegen sieht keinen großen Wandel. Die 28-Jährige schließt gerade ihr Studium in Zivilrecht ab. „Ich gehöre garantiert nicht zur aufstrebenden Klasse, die Bars eröffnet. Ich werde für den Staat arbeiten und vielleicht davon profitieren, dass die Löhne ein bisschen, aber nicht ausreichend gestiegen sind.“

Kuba durchlebt keine Phase des wirtschaftlichen Wohlergehens, es fehlt an Investitionen, die Schäden durch Hurrikan „Irma“ waren erheblich, die Krise des Verbündeten und Hauptöllieferanten Venezuela macht sich bemerkbar, ebenso die ins Stocken geratene Annäherung an die USA. Die mit Präsident Trump einhergehende Rückkehr zur Feindseligkeit hat bei der Regierung in Havanna zu einer „Fasten your seat belts“-Reaktion geführt. Die Öffnung des Privatsektors wurde gebremst.

Seit Anfang Juli steht jedoch fest, dass die vor einem Jahr ausgesetzte Vergabe neuer Geschäftslizenzen ab Dezember wieder aufgenommen wird, allerdings dürfen Kubaner in Zukunft nur noch einer privatwirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen, also nicht gleichzeitig eine Cafeteria betreiben und Zimmer an Touristen vermieten. Wie sonst sollte die Konzentration von Reichtum verhindert werden?

„Dann setzen die Leute eben wieder ihre Schwiegermutter oder jemand anders als Geschäftsinhaber ein. Aber genau das sollte doch verhindert werden, oder?!“, sagt Carlos Gutierrez* kopfschüttelnd. Der 40-Jährige verdient sein Geld als Taxifahrer. In seiner Wohnung hat er ein Zimmer hergerichtet, um es an Touristen zu vermieten. Er sei froh, dass der Lizenzstopp bald vorbei sein soll, auch wenn alles bürokratischer werden könnte.

Längere Genehmigungsverfahren, mehr Kontrollen – die Kritik an den neuen Regularien ist auch eine am neuen Staatschef Díaz-Canel. Wird doch ein Maßnahmenkatalog für den Privatsektor – obwohl schon länger in Arbeit – als erster großer Akt der neuen Regierung wahrgenommen.

Díaz-Canel gilt als Pragmatiker, der den Menschen zugewandt und ein guter Zuhörer ist. Während seiner Zeit als Parteichef der Heimatprovinz Villa Clara setzte sich der heute 58-Jährige für die Rechte von Homosexuellen ein; er will die Staatsmedien modernisieren und das Internet auf der Insel ausbauen. In Villa Clara kursieren bis heute diverse Anekdoten, die Díaz-Canel als bodenständigen Charakter beschreiben. Man erinnert sich daran, wie er nach 1990 in den Jahren des Período especial en tiempo de paz, als das Benzin teilweise ausging, im Unterschied zu anderen Staatsbediensteten stets mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Bei der Parlamentswahl Mitte März schlenderte Díaz-Canel Hand in Hand mit seiner Ehefrau Lis Cuesta zum Wahllokal in Santa Clara. Wie alle Wähler stellte er sich in die Schlange und wartete 20 Minuten.

Als Präsident verzichtet Díaz-Canel bisher weitgehend auf die üblichen Fernsehansprachen. Mitte Juni besuchte er das Nationalheiligtum der Barmherzigen Jungfrau von El Cobre, unweit von Santiago de Cuba – eine Geste an die Anhänger der afrokubanischen Religion, die auf der Insel lange als atavistischer Kult verpönt war. In einer Oberschule spielte der Präsident mit Jugendlichen Basketball. Die 500-Jahr-Feier Havannas machte er zur Chefsache und setzte eine Sonderkommission ein, die den Behörden der Hauptstadt beim Wohnungsbau, der Müllentsorgung sowie dem Versuch, die städtische Infrastruktur zu entstören, assistieren soll.

Exodus der Jungen

Seit Mitte Juli nun debattiert die Nationalversammlung eine neue Magna Charta, um die Wirtschafts- und Sozialreformen der vergangenen Jahre als Verfassungsrecht zu verankern. Planwirtschaft und Staatseigentum bleiben zwar fundamental für die kubanische Wirtschaft, doch wird erstmals anerkannt, dass es einen Markt und auf diesem Wettbewerber gibt, die sich auf privates Eigentum stützen. Zudem soll das Recht festgeschrieben werden, ausländische Investitionen für die nationale Ökonomie zu gewinnen. Zudem will sich die Gesellschaft des Karibikstaates gleichgeschlechtlichen Ehen öffnen.

Erstmals seit der Revolution von 1959 wird es demnächst einen Ministerpräsidenten geben, der die Regierung führt, sowie das Amt eines „Präsidenten der Republik“. Zunächst bleibt Raúl Castro bis 2021 Erster Sekretär der Kommunistischen Partei (PCC). Was so viel heißen soll wie: Am Ein-Parteien-System wird auch mit der neuen Konstitution nicht gerüttelt.

Das bei der Verfassungsdebatte in der Nationalversammlung am häufigsten gebrauchte Worte war „Kontinuität“. Damit lässt sich auch die Auswahl der neuen Ministerriege beschreiben. Die meisten Schlüsselressorts – Verteidigung, Inneres, Außenhandel, Finanzen, Äußeres – werden von denen fortgeführt, die bereits unter Raúl Castro im Amt waren. Andere Ressorts, ein Drittel etwa, sind neu besetzt. Im Kabinett fehlt ab sofort Marino Murillo, der seit 2008 für die wirtschaftliche Öffnung des Landes zuständig war und den nun Alejandro Gil Fernández beerbt. Murillo bleibt jedoch Chef der Reformkommission und Mitglied des Politbüros der PCC.

Die anstehenden Korrekturen der Verfassung werden der seit sieben Jahren offiziell betriebenen „Aktualisierung des sozialistischen Modells“ zugeordnet, das eines Tages der Inbegriff verbesserter Lebensumstände sein soll. Bisher fehlt es vielen Kubanern am nötigen Einkommen, um daran zu glauben. Besonders die Jungen, gut Ausgebildeten verlassen weiter das Land oder träumen von einer Auswanderung, die sie dann doch nicht riskieren wollen.

Ein junger Mann, der Obst und Gemüse auf einem Markt im Havanna-Vedado verkauft, hält mit seiner Unzufriedenheit nicht hinterm Berg. „Die Leute wollen einen Wandel, aber hier wird sich nichts ändern. Wenn sich die Möglichkeit bietet, bin ich weg hier.“ Andere wie der Taxifahrer Gutierrez sind zuversichtlicher: „Díaz-Canel ist gerade mal vier Monate im Amt. Hoffen wir, dass es mit ihm vorangeht.“

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* Name geändert

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