Zwanzig neue Chancen

Kuba Unabhängige Filmemacher drehen oft am Rande der Legalität. Ein staatliches Dekret soll ihnen jetzt helfen
Ausgabe 51/2019
Die Zahl der Kinosäle in Havanna ist seit den 1970ern auf ein Fünftel geschrumpft
Die Zahl der Kinosäle in Havanna ist seit den 1970ern auf ein Fünftel geschrumpft

Foto: Yamil Lage/AFP/Getty Images

Um Vasen, Lampen und andere Utensilien für den Dreh seines Historienfilms mitgehen zu lassen, steigt der kubanische Filmemacher Nicanor O’Donnell nachts in das Haus des Reggaeton-Stars Papi la Amígdala in Havanna ein. Doch er wird dabei von dem Hausherrn überrascht. In der Folge entspannt sich eine Debatte zwischen dem Einbrecher-Filmregisseur, dem in seiner Nachtruhe gestörten Musiker und einer jungen Frau, einer begabten Schauspielerin, die Videoclips dreht und, um zu überleben, „Überstunden“ im Bett des Reggaeton-Stars macht. Der weiß noch nicht einmal, was eine Achternote ist, lebt aber in einem großen Haus, hat den Mund voller Goldzähne und reist immer wieder nach Miami.

Der im vergangenen Jahr erschienene Kurzfilm Rállame la zanahoria (übersetzt in etwa: „Reib mir die Karotte“) des kubanischen Regisseurs Eduardo del Llano handelt von den „Abenteuern“, zu denen Schauspieler und Regisseure der Karibikinsel gezwungen sind, um sich das Filmedrehen zu ermöglichen – Raub und Prostitution eingeschlossen. Es ist ein überspitzter Beitrag zu einer seit Längerem bestehenden Kontroverse um die Arbeitsbedingungen von unabhängigen Filmschaffenden auf der Insel.

„Als wir Rállame la zanahoria gedreht haben, waren wir bereits drei Jahre am Kämpfen für ein Filmgesetz. Das war damals noch sehr weit weg“, sagt del Llano. Der 57-jährige Regisseur, der international vor allem als Drehbuchautor bekannt wurde, gehört zur älteren Garde unabhängiger Filmemacher auf Kuba. (Unter anderem hat er das Drehbuch zu Das Leben, ein Pfeifen geschrieben, der 2000 im Fahrwasser von Wim Wenders‘ Buena Vista Social Club in Deutschland ein kleiner Arthaus-Hit war.)

Ende September nun trat das Gesetzesdekret 373 in Kraft, mit dem die Arbeit unabhängiger Filmschaffender wie del Llano erstmals anerkannt und ihr ein rechtlicher Rahmen gegeben wird. „Das Dekret ist ein erster Schritt hin zu einem Filmgesetz. Dieses ist eine lange gestellte Forderung – nicht nur der unabhängigen Filmemacher, sondern der Filmschaffenden in Kuba allgemein“, sagt die Produzentin Claudia Calviño, die unter anderem den mit viel Festivalpreisen bedachten Yuli (2018), das Biopic des kubanischen Tänzers Carlos Acosta mitproduziert hat. Ein solches sei dringend nötig, denn im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas sei das kubanische Kino zurückgeblieben, so die junge Frau. Man nehme nur die Nominierungen auf internationalen Filmfestivals, wo kubanische Filme nur selten konkurrieren. Selbst beim derzeit laufenden 41. Festival des neuen lateinamerikanischen Films in Havanna, einem der wichtigsten Festivals des Kontinents, ist mit Buscando a Casal (in etwa: „Auf der Suche nach Casal“) des Regisseurs Jorge Luis Sánchez gerade mal eine einzige kubanische Produktion im Wettbewerbsprogramm vertreten.

Buscando a Casal handelt von Julián del Casal, einem in seiner Zeit unverstandenen kubanischen Poeten des 19. Jahrhunderts, der mit nur 29 Jahren verstarb. Der Film wirft einen Blick zurück in die Epoche der Kolonialzeit und auf die Wurzeln der kubanischen Identität, handelt aber im Grunde von der Beziehung zwischen Kunst bzw. Künstler und (Staats-)Macht. Aufgrund eines ironischen Artikels über den regierenden Generalkapitän der spanischen Kolonie kommt Casal in Konflikt mit den Autoritäten, die versuchen, ihn mundtot zu machen. Casal verteidigte seine (künstlerische) Freiheit bis zur letzten Konsequenz. Der Blick zurück ist eben immer auch einer in die Gegenwart und Zukunft.

Warten aufs Kleingedruckte

Dass es nicht mehr kubanische Filme ins Wettbewerbsprogramm geschafft haben, hat aber nichts mit Zensur zu tun. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten gibt es seit einigen Jahren auf Kuba immer weniger (staatliche) Eigenproduktionen, dafür entstehen zunehmend Co-Produktionen mit ausländischen Geldgebern bzw. kleinere, unabhängige Produktionen. Die „Demokratisierung“ der Technik macht es möglich. Die unabhängigen Filmschaffenden arbeiteten bisher aber in einer rechtlichen Grauzone. Sie wurden geduldet, waren von Gesetz wegen aber nicht vorgesehen. Mit dem neuen Dekret können sich unabhängige Produzenten von Filmen oder Videoclips nun legal anmelden, ein eigenes Firmenkonto eröffnen und von staatlichen und nicht staatlichen Institutionen angeheuert werden.

„Das Dekret nimmt einige der Sachen, die wir damals gefordert haben, auf. Aber es ist eben ein Dekret und kein Gesetz und hat nicht dasselbe Gewicht“, erklärt del Llano. „Wie alles in diesem Land kommt es auf die praktische Umsetzung an.“ Nach zwei, drei Jahren müsse man schauen, wie es in der Praxis funktioniert. Dass es dieses Dekret gebe, hänge mit dem Insistieren und der harten Arbeit vieler Filmschaffender über einen langen Zeitraum zusammen, sagt Calviño: „Ich glaube, dass das Dekret etwas Wichtiges bringt.“

Ähnlich sieht es der Produzent Ricardo Figueredo. Außerhalb Kubas wurde vor allem sein Film La singular historia de Juan Sin Nada („Die einzigartige Geschichte des Juan ohne alles“) wahrgenommen. Der ironische Dokumentarfilm aus dem Jahr 2016 handelt vom Alltag eines durchschnittlichen Kubaners, der mit dem damaligen Durchschnittsgehalt von 250 kubanischen Pesos (10 Euro) klarkommen muss. Im Festivalprogramm ist Figueredo, der mit seinen Filmen immer wieder aneckt, mit zwei Kurzfilmen vertreten – Dos Veteranos und Alberto. „Ich habe viel Hoffnung“, sagt er mit Blick auf das neue Dekret. „Nicht nur, weil ich nun offiziell eine Produktionsfirma haben kann, sondern weil die Regierung letztlich auf das unabhängige Kino setzt. Man muss nur sehen, wie weit die Toleranz mit den Geschichten geht: Diese Frage beunruhigt viele Leute.“

Wer künftig als Filmproduzent, Casting-Agent oder Vermieter von Equipment arbeiten will, muss sich beim Nationalen Institut für Kunst und Film, Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos, ICAIC, registrieren. Dort wird auch der neu geschaffene Filmförderungsfonds, Fondo de Fomento para el Cine Cubano, angesiedelt. Dieser sei gerade für viele junge Filmschaffende interessant, glaubt Calviño. „Es ist das erste Mal, dass Filmemacher eine direkte Finanzierung vom Staat erhalten.“

„Der neue rechtliche Rahmen eröffnet den Filmemachern außergewöhnliche Möglichkeiten“, glaubt Magda González Grau, Filmemacherin und Uni-Professorin. Gegenüber der Tageszeitung Granma verweist sie auf die aus ihrer Sicht positiven Effekte. „Es gibt Menschen mit bestimmten Vorurteilen, die glauben, dass es mehr Kontrolle geben wird, wegen Fragen wie der Einschreibung in ein Register. Das Dekret bringt jedoch viele Vorteile, Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz, soziale Absicherung …“

Das Register sei für viele wichtig für ihre Arbeit; sie könnten fortan legal auftreten, anerkennt del Llano. „Aber man muss immer auch auf das Kleingedruckte schauen. Mal sehen, wozu es uns verpflichtet.“ Nicht jede Geschichte unabhängiger Filmemacher müsse Beunruhigung hervorrufen, findet Figueredo. Sie machten ja nicht nur kontroverse Filme, sondern auch „Liebes-, Monster-, Science-Fiction- oder Piratenfilme“. „Das Dekret öffnet auch eine Tür. Vielleicht werden zwanzig Filme mehr gemacht, von zwanzig jungen Leuten, denen eine Möglichkeit gegeben wird und die deshalb nicht das Land verlassen, um ihre Filme woanders zu drehen.“ Und: „Zensur hat es immer gegeben. Trotzdem wurde nie aufgehört, Sachen zu drehen.“ Er verweist auf Filme wie „AM“ oder Alicia en el pueblo de Maravillas (Alicia am Ort der Wunder) von 1991, zu dem Eduardo del Llano übrigens das Drehbuch schrieb. Den Versuch, Kontrolle auszuüben, gebe es nicht nur auf Kuba.

„In Kuba wie überall anders auch ist das eine, was im Gesetz steht, und das andere, was wirklich passiert“, sagt del Llano. „Hier sind wir daran gewöhnt, dass sich Gesetze in kleine Mängel, in kleine Dienstwege, in kleine Komplikationen verwandeln, sodass ich wenig davon erwarte.“ Figueredo ist optimistischer. Das Dekret sei ein Schritt in die richtige Richtung. „Fehlt nur, dass es funktioniert. Ich bin erwartungsfroh.“

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