Mit der weltweiten globalisierungskritischen Bewegung und dem wachsenden Widerstand gegen "Reformen" zum Abbau sozialer Errungenschaften haben in den letzten Jahren auch Ideen wieder Auftrieb gewonnen, die sich keineswegs in Forderungen nach einer Tobin-Steuer oder einer keynesianischen Wachstumspolitik erschöpfen. Die trotzige Behauptung, nichts Geringeres als eine "andere Welt" sei möglich, schießt weit über solche Rezepte hinaus, und so werden denn immer häufiger Finanzmärkte, blinder Wachstumszwang, die kapitalistische Wirtschaftsweise überhaupt in Frage gestellt. Doch dieser neue Mut zur Utopie bleibt diffus. Hier und da schlüpft man mit halbem Ernst in Rollen, an die man sich aus den Widerstandsbewegungen vergangener Tage noch erinnert; auch die des marxistischen Revolutionärs ist wieder dabei. Oder man redet sich mit postmodernen Begriffskaskaden, wie sie von Michael Hardt und Negri geliefert werden, so lange in Trance, bis man den neuen Kommunismus schon heraufziehen sieht. Oder man ist - da in Wirklichkeit eben doch keiner so recht weiß, wie eine Alternative zum Kapitalismus aussehen könnte - einfach ratlos.
Dieser Ratlosigkeit will ein bemerkenswertes Buch Abhilfe schaffen, das vor einem Jahr in englischer Sprache unter dem Titel Parecon - Life After Capitalism erschienen ist. Obwohl von prominenten Persönlichkeiten wie Noam Chomsky hoch gelobt, ist es in Deutschland bisher seltsam wenig wahrgenommen worden. Sein Autor Michael Albert, Redner, Autor, Aktivist und Herausgeber des linken Internet-Forums ZNet und Zmag, verzichtet darauf, sich allzu lange mit antikapitalistischer Rhetorik aufzuhalten. Nüchtern konstatiert er, dass eine demokratisch gesteuerte, gleichermaßen freiheitliche wie solidarische Wirtschaftsweise wünschenswert wäre; und ebenso nüchtern und mit viel ökonomischem Sachverstand macht er sich daran, eine solche Alternative durchzubuchstabieren, die er "participatory economics", kurz: "Parecon" getauft hat.
Dabei ist sein Unternehmen, so unpathetisch es daherkommt, einigermaßen radikal: Albert lehnt das Privateigentum an Produktionsmitteln ab, weil es die Herrschaft einiger weniger über die Mehrheit zementiert; er wendet sich gegen die hierarchische Arbeitsteilung, weil sie unvermeidlich dazu führt, dass die meisten Menschen wenig oder nichts über ihre Arbeit zu entscheiden haben und nicht auf gleicher Augenhöhe kooperieren können; er weist den Markt als Instrument der Güterverteilung zurück, weil er soziale und ökologische Kosten nicht berücksichtigt, einen allgemeinen Egoismus fördert und Entfremdung und Ungleichheit nach sich zieht. Statt dessen schwebt Albert ein System von Arbeiter- und Konsumentenräten vor, die durch übergreifende Räte-Föderationen miteinander verbunden sind. In einem Prozess "partizipativer Planung" sollen Produktion und Verbraucherwünsche aufeinander abgestimmt werden. Die Entscheidungsfindung wäre dabei so gestaltet, dass die Mitsprachemöglichkeiten des Einzelnen in etwa dem Ausmaß entsprechen, in dem er von den Folgen der Entscheidung betroffen ist. Dadurch soll - trotz basisdemokratischer Struktur - vermieden werden, dass dem Einzelnen eine Allzuständigkeit abverlangt wird; zudem verhindert dieser Grundsatz, dass eine übermächtige Mehrheit einer Minderheit unverhältnismäßige Lasten aufbürden kann. Einkommensunterschiede gäbe es zwar auch in "Parecon", um Leistungsanreize zu schaffen; aber sie sollen auch wirklich nur Leistung und Opferbereitschaft honorieren und nicht in Besitz und Macht, ja nicht einmal im Erfolg begründet sein.
Die bisherige Form der Arbeitsteilung, die für einige wenige Menschen herausfordernde und erfüllende Aufgaben und für die meisten bloß ausführende und mechanische Tätigkeiten vorsieht, möchte Albert abschaffen - und an ihre Stelle "ausgeglichene Job-Komplexe" setzen, die jeder Arbeiterin und jedem Arbeiter mehrere Aufgaben zuweisen, sowohl interessante als auch unvermeidlich-lästige; und dies in einem ausgewogenen Verhältnis, das auch individuelle Eigenheiten und Vorlieben berücksichtigt. Damit wäre Karl Marx´ Vision, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben" vielleicht noch nicht ganz verwirklicht. Aber erfüllende und unangenehme Arbeiten wären gerechter verteilt, und der Hierarchisierung der Arbeitswelt wäre eine entscheidende Grundlage entzogen.
Das Erstaunliche ist, dass die schöne Idee einer freien und solidarischen Wirtschaft durch Alberts Überlegungen alles Luftige verliert - weil er sehr präzise beschreibt, wie ihre Institutionen funktionieren könnten. Er geht sogar so weit, eingehend den Alltag in Parecon zu schildern. Dabei hat sein Buch durchaus nichts harmlos Träumerisches, im Gegenteil. Man kennt die besorgte Frage: "Eure Utopien sind ja schön und gut - aber sind sie auch realistisch?" Albert denkt wirklichkeitsnah genug, um diese Frage ernst zu nehmen und eine Antwort zu versuchen. So verschließt Albert sich auch keineswegs in seinem eigenen Theorie-Gebäude, sondern setzt sich in einem abschließenden Teil des Buches vorurteilslos und sachlich auch mit Einwänden der Marktfreunde auseinander.
Auf diese Weise entfaltet Albert eine konkrete Utopie - "konkret" auch deshalb, weil sie stets im Dialog mit historischen Erinnerungen und Tendenzen der Gegenwart entwickelt wird. Albert ist seit Jahrzehnten in selbstverwalteten Strukturen engagiert und lässt viele Erfahrungen eingehen, die er dort gesammelt hat. Zudem steht die Geschichte bisheriger Versuche, den Kapitalismus zu überwinden, immer im Hintergrund - vor allem natürlich die der gescheiterten Wirtschaftssysteme des früheren "Ostens".
Parecon soll nicht zuletzt dem Nachweis dienen, dass auch andere, attraktivere Alternativen denkbar sind. Dabei will Albert keinesfalls einen Generalplan für die künftige Gesellschaft aufstellen: Der alte Fehler, dass man den Weg in eine goldene Zukunft schon zu wissen glaubt, auf den die weniger Erleuchteten dann notfalls auch zwangsweise zu bringen wären, soll nicht wiederholt werden. Alberts Gesellschaftsentwurf setzt vielmehr selbstständige, diskussionsfreudige und kritikfähige Menschen voraus - und an ebensolche Menschen wendet er sich. Denen werden auch gewisse Probleme, die Parecon aufwirft, nicht entgehen: Wie kann eine weltweit vernetzte Wirtschaft effektiv durch Räte gesteuert werden, die notwendig in lokalen Bezügen verankert sein müssen? Oder soll die Globalisierung rückgängig gemacht werden? Welche Reichweite sollen kollektive Entscheidungen haben, und wie kann der Eigensinn des Individuums wirksam geschützt werden? Nicht trotz, sondern gerade wegen solcher offenen Fragen wünscht man sich, dass Alberts Buch eine ernsthafte Debatte über Zukunftsvisionen anstößt, die über die Abwehrkämpfe des Tages hinausreichen.
Michael Albert: Parecon. Life After Capitalism. Verso, London/ New York: 2003,
311 S., ca. 14,00 EUR
www. parecon.org.
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