: Von Befürwortern der Atomkraft wird immer behauptet, es gäbe weltweit eine Renaissance der Atomenergie. Haben sie recht?
Die nukleare Renaissance, von der die Strombranche so gerne spricht, ist eher eine nukleare Fata Morgana. In vielen Ländern werden neue Atomkraftwerke (AKW) angekündigt, aber die Realität sieht anders aus: In der Rangliste der neuen Kraftwerke in Europa ist die Atomenergie das Schlusslicht, während insbesondere die Windenergie ein Rekordjahr nach dem anderen verzeichnet und weltweit seit 15 Jahren mit jährlichen Wachstumsraten von 30 Prozent glänzt. Im Jahr 2008 führte die Windenergie erstmals die Rangliste der meistgebauten Kraftwerke in Europa an, und auch in den USA und China wächst der Windmarkt rasant. Die Solarenergie hat europaweit aus dem Stand heraus den dritten Platz erobert, nicht zuletzt dank des Solar-Booms in Spanien.
Bei der Atomenergie ist es aus mehreren Gründen ausgesprochen schwierig, verlässliche Zahlen zu den Gesamtkosten zu erhalten. Erstens werden in ganz Europa momentan nur zwei neue Kraftwerke gebaut – in beiden Fällen mit Kostenüberschreitungen in Milliardenhöhe. Zweitens gibt es nur eine Handvoll Anbieter von solchen Kraftwerken auf der Welt und somit keine transparenten Marktpreise. Drittens ist es sehr schwer, die Kosten für die Endlagerung der radioaktiven Abfälle zu ermitteln, die für Tausende von Jahren sicher verwahrt werden müssen. Und viertens kann man auch die Versicherungskosten für den seltenen, aber extrem teuren Fall eines großen Unfalls nicht nach marktwirtschaftlichen Kriterien berechnen. Meiner Meinung nach sind Atomkraftwerke nur dort finanzierbar, wo de facto eine Staatsgarantie übernommen wird, weil man sie für „too big to fail“ erklärt. Das ist wirtschaftspolitisch bedenklich.
Haben die großen Energiekonzerne ein echtes Interesse am Ausbau regenerativer Energieträger?
Wie immer bei großen technologischen Umbrüchen tun sich die etablierten Unternehmen schwer, die Verteidigung des heutigen Marktes und die Erschließung der Märkte von morgen unter einen Hut zu bringen. Sie haben wohl auch Angst vor Kannibalisierung in ihrem Kraftwerkspark, wenn die konventionellen Altanlagen Marktanteile an die Erneuerbaren verlieren. Ich sehe aber viel versprechende Ansätze bei einigen Energieversorgern, besonders wenn der dynamische Bereich der erneuerbaren Energien in eine weitgehend eigenständige Tochterunternehmung ausgegliedert wird. Beispiele dafür sind EDP Renovaveis in Portugal und die spanische Iberdrola Renovables. Grundsätzlich scheint mir die Haltung der Energiekonzerne fortschrittlicher als noch vor einigen Jahren.
Und die Konzerne haben keine Angst vor dem Machtverlust durch ein dezentralisiertes Energiesystem, das mit dem Ausbau erneuerbarer Energien entsteht?
Die großen Energieversorger sind es seit Jahrzehnten gewohnt, in großen Einheiten zu denken. Die ungewohnte Struktur vieler kleiner dezentraler Anlagen war für sie mental schwer zu vereinbaren mit dem bestehenden Geschäftsmodell. So wie IBM als Hersteller von Großcomputern Mühe hatte, den PC und das Internet kommen zu sehen. Die Möglichkeit, mit Offshore-Windparks oder Solarkraftwerken in der Wüste mehrere hundert Megawatt auf einen Schlag zu bauen, macht es diesen Energieversorgern mittlerweile leichter, erneuerbare Energien in ihr bisheriges Geschäftsmodell zu integrieren.
Wie ist es mit den Verbrauchern: Warum ist die Bereitschaft, zu einem Ökostromanbieter zu wechseln, so gering?
Die Sympathien bei den Deutschen sind klar verteilt: 80 Prozent wollen erneuerbare Energien. Aber nur drei bis fünf Prozent der Haushalte sind bislang den Weg vom latenten Umweltbewusstsein bis zum realen Kauf von Ökostrom konsequent zu Ende gegangen.
Gegen die Trägheit der Verbraucher ist wohl kein Kraut gewachsen?
Es gibt eine Möglichkeit: Wenn der bestehende Anbieter das Basisprodukt, den Default, auf grünen Strom umstellt. Das war in Südhessen so. Die ENTEGA verkündete Anfang letzten Jahres, dass ihre Kunden von nun an Ökostrom bekommen. Wem das nicht passte, der musste wechseln. Über 80 Prozent der Altkunden haben den Ökostrom akzeptiert und sind nicht zu dem billigeren, aber schmutzigen Produkt gewechselt.
Das „erneuerbare Kombikraftwerk“ kann die Lösung unserer Energieprobleme sein: Wind- und Sonnenenergie, Wasserkraft, Geothermie, Biomasse und Gezeitenkraftwerke – ein Portfolio regenerativer Energien, deren Erzeugungsprofile sich ergänzen. In Finanzvorlesungen bringen wir unseren Studenten im ersten Semester bei, dass der Verkauf von Sonnen- und Regenschirmen ein nahezu perfekt diversifiziertes Geschäftsmodell darstellt. So ähnlich ist es mit Sonnen-, Wind- und Wasserkraft. Wenn die Sonne einmal nicht scheint, gibt es häufig Wind gefolgt von Regen – eines davon ist immer verfügbar. Die Wasserkraftwerke als dritter im Bunde operieren als Komplementärtechnologie. Sie ist speicherfähig und kann so die Produktionsschwankungen bei Wind- und Solarenergie ausgleichen. Atomkraftwerke sind für diese bedarfsgerechte Stromerzeugung ungeeignet, sie produzieren 24 Stunden am Tag die gleiche Strommenge.
Das Gespräch führte Andreas Lorenz-Meyer
Rolf Wüstenhagen ist Professor am Institut für Wirtschaft und Ökologie in Sankt Gallen/Schweiz und leitet dort den Lehrstuhl Good Energies
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