Achtung, diese szenische Kolumne beruht auf realen Seherlebnissen, die frühvormittags oder spätnachts – wenn normale Menschen auf Instagram sind, ihren Hund verprügeln oder Bundesliga-Wiederholung gucken – auf Spartensendern des vergangenen Jahrhunderts wie SWR oder 3sat tatsächlich gemacht wurden. „They’ve put me on these interest drugs“, wie es bei David Bowie (Outside) hieß – und für mich, wann immer es um Bücher geht. Die Sendungen hatten öffentlich-rechtliche Titel wie Unter Büchern oder Gottschalk liest?, und sie zu gucken fühlte sich an, als würde man dabei eine furchtbare Schuld auf sich laden. Aber es wurden nie lebendige Tiere verletzt, höchstens Lesergefühle. Die meisten Bücher hatten außerdem leicht zu bewertende Sachthemen, die Sie auch von Lanz oder Maischberger kennen (Selbstmord, Kaffee und Zigaretten, prekäre Wohnsituation im Prenzlauer-Berg-Kreativmilieu, Musterintegration von bosnischen Kriegsflüchtlingen). ANSCHALTEN. Bevor der rote Vorhang hochgeht, sagt Thomas Gottschalk, dass er schon mal Handke gelesen hat, Wetten, dass..? in Augsburg gegründet wurde und er Ferdinand von Schirach für einen klugen Mann hält, weil der sich mal umbringen wollte, als sie ihn im Bayerischen Hof in einer Suite einquartieren wollten, die aussieht, wie Tommy angezogen ist. UMSCHALTEN.
Es gibt tatsächlich einen roten Vorhang, und eine rothaarige Buchhändlerin mit erotischem Buchhändlerinnentimbre tritt davor und fragt mit Nietzsche, was wohl dahinter sein mag. Oder was passiert, wenn man sich zwei Tage lang mit sechs „Dichtern“ in und über Leipzig trifft. Dann gibt es das erste kleine Filmchen mit zwei Laienschauspielern (wie bei Aktenzeichen XY, nur in nett), die Katrin Schumacher und Saša Stanišić heißen und sich im Zug nach Berlin erst zusammentelefonieren müssen: „Ich bin Wagen 3, vorne sitzen die Japaner, die haben ganzen Abteil besetzt …“ Dann haben sie endlich auch ein Abteil für sich („Wie schön!“), wo sie ungestört über die letzten großen Dinge flirten können: Herkunft („der große Rahmen eines Lebens, in dem unfassbar viel vorgegeben ist, aber auch unfassbar viel im Laufe des Vorgegebenen dazukommt“) oder Tote in Büchern – „Bei Ihnen sprechen die Toten, ich mag das sehr …“ – „Ich auch!“ – „… weil sie haben einfach Zeit, nachzudenken, sie sind aus dem Alltag enthoben, sie können räsonieren … Sind die Toten die allwissenden Erzähler?“ – „Ja, die aber auch vieles verschweigen …“ – FASTFORWARD. – „Was entscheidet sich der Tote, durch uns zu sprechen, durch uns Autoren …“
UMSCHALTEN.
Robert Habeck sitzt im zu großen Sakko im Literarischen Quartett und widerspricht Volker Weidermann, dessen Sakko besser sitzt (der Trend im Literatur-Fernsehen geht zum Sakko) und der Michel Houellebecq seine Verzweiflung glaubt. Nee, nee, das sei doch alles zu schludrig („... der absolute Tiefpunkt: Seine blonden Haare wehten im Windhauch – na, watt denn nun: Wind oder Hauch?!“). Habecks These, Antidepressiva hin, Libidoverlust her: Der ist einfach nur gelangweilt. Wenn jemand sagt, er sei depressiv und dann „300 Seiten lang nur Aktionen startet, Schießen lernt, durch die Provinz fährt, Leute trifft, Pläne schmiedet“, dann glaubt Habeck – beide Daumen hoch, die Lippen zum Furz geschürzt – ihm einfach nicht mehr. UMSCHALTEN.
In der vormaligen Villa Merck („seit mehr als 60 Jahren … Synonym für Tagungen der deutschen Wirtschaft“) sitzt Reinhard Kaiser-Mühlecker ungläubig oder geschockt oder schweigend dem deutschen Literatur-TV-König gegenüber. Denis Scheck will jetzt von ihm was über die moderne Welt und seinen lakonischen Landwirtschaftsroman Enteignung hören. Kaiser-Mühlecker sieht dabei ein wenig so aus wie der glücklose Schalker Bundesliga-Profi Sebastian Rudy, wenn der nach Spielende in ein Sakko gesteckt worden wäre. Scheck dagegen sieht wie immer aus wie die von einem schlecht gelaunten Thomas Mann nach grauenvollem Mittagsschlaf ausgeheckte Karikatur eines Literaturkritikers (Anzug und Krawatte, die farblich das Einstecktuch matched). Kurz hofft man, dass Kaiser-Mühlecker nichts mehr sagt, aber dann hebt er sehr langsam an und wagt eine Metapher, von der bei uns ob des angeschlagenen Sprechtempos nur der Begriff „Hamsterrad“ haften bleibt. UMSCHALTEN.
Die rothaarige Buchhändlerin mit der einfühlsamen Stimme steht jetzt in roten Lederstiefeln neben der Leipziger Autorin Daniela Krien auf einer Dachterrasse hoch über Leipzig und blickt auf Leipzig herunter („irgendwie inspirierend, dieses Leipzig“). Es geht jetzt um „Liebe im Ernstfall“, fünf Frauen mit einem Leben um die 40 und ein Buch, das „etwas ganz Reizendes hat, nämlich einen Perspektivwechsel, was dazu führt, dass sich auch die Sympathien verschieben …“ FASTFORWARD. Krien sagt, dass Liebe kein Gefühl ist, sondern eine Tat. FASTFORWARD.
Immer noch „Unter Büchern“: Der Suhrkamp-Liebeslyriker Albert Ostermaier bekommt seine Schriftstellerkarriere als Fußballreportage eingespielt („... das ist noch keinem Torwart ni-be-lungen“ (SIC!)), aber irgendwie funkt es nicht zwischen der Buchhändlerin und ihm. Deswegen muss Albert Ostermaier schließlich allein auf den Stufen eines Theaterfoyers und mit lauter Torwartstimme ein Gedicht vorlesen. Es geht um ein Herz als Stein, mit dem ein Ich ein Dich erschlägt, bevor das Du es fassen kann. Denn „meine Liebe bleibt unfassbar“. AUSSCHALTEN. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Fernseher lesend gesehen habe.
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