Um mich vor dem Schlimmsten – Prätention, Größenwahn der „eigenen“ Meinung … – zu bewahren, schreibe ich hier gern für imaginäre Leser (Goetz, Bolaño, meine Frau, Detlef Kuhlbrodt) und stelle mir vor, was sie von dem Dargebotenen halten mögen. Etwa von der Idee, mich neulich eine Dreiviertelstunde lang mit dem französischen Star-Autofiktionalisten Emmanuel Carrère über die Metaphysik von Le Evil unterhalten zu wollen (Bericht folgt).
Daran war der Autor nicht ganz unschuldig, beziehungsweise die Neuübersetzung von Der Widersacher (Matthes & Seitz), in dem Carrère sich erstmalig mit seinen eigenen Recherchen in einen realen Fall eingeschrieben hat. Eine Methode, die er mit Büchern wie Alles ist wahr perfektionieren sollte. Bloß dass es in Der Widersacher (auf Deutsch erstmals 2003 als Amok erschienen) nicht um Autoren-, Beziehungs- und Glaubensprobleme geht, sondern um einen der spektakulärsten Kriminal-fälle der französischen Nachkriegsgeschichte. Oder doch: denn Jean-Claude Romand, dem Widersacher, gelingt es 18 Jahre lang mit Energie, Einfallsreichtum und Einfühlungsvermögen eines Autors, das Leben eines angesehenen Forschers bei der WHO zu führen – und alle in seinem Umfeld nicht nur darüber zu täuschen, dass er das Studium abgebrochen hatte und seine Tage im Wald verbringt, sondern sie auch noch im Stile eines Bernie Madoff mit Ponzi-Schemes abzuzocken.
So weit, so literarisch – Emmanuel Carrère schreibt, wie nah sich ein Autor der Einsamkeit des Betrügers fühlt: „Ich weiß, was es heißt, den ganzen Tag ohne Zeugen zu verbringen, stundenlang dazuliegen und an die Decke zu starren und Angst zu haben, nicht mehr zu existieren.“ Dann vollzieht sich bei Romand allerdings der entscheidende Sprung ins Psychopathische. Als er aufzufliegen droht, begeht er keinen Geheimnisverrat in Form eines Romans, sondern tötet seine Familie – und überlebt einen Selbstmordversuch. Im Gerichtsverfahren gelingt es Carrère, Kontakt aufzunehmen, sein Vertrauen zu gewinnen – und letzten Endes dennoch gemeinsam mit Romand ratlos vor der Tat zu stehen. Carrère verhehlt nicht, dass sich etwas Dunkles vollziehen muss, um unser Interesse zu gewinnen. Es bleibt ein Unbehagen an der Banalität unserer Faszination für „das Böse“, das Literatur dringender braucht als „das Gute“.
Da macht es sich Annie Ernaux, Carrères große französische Autorenkollegin mit ähnlich autobiografischem Schreibansatz, leichter (oder schwerer), indem sie sich selbst zum Fall macht. Das Mädchen aus der Erinnerung eines Mädchens (Suhrkamp) ist sie selbst. Oder nicht: „Das Mädchen von 58“, heißt es immer wieder, brach als 17-Jährige aus der Enge ihrer kleinbürgerlichen Kindheit (die Eltern hatten einen Krämerladen) aus, um erste sexuelle und schriftstellerische Erfahrungen zu sammeln, wenn man das so bescheuert gegenüberstellen darf. Denn es passieren noch bescheuertere Dinge: Annie verliebt sich als Aufpasserin im Ferienlager in ihren Chef, der sich eine Nacht lang oral befriedigen lässt, um sie dann eiskalt fallen zu lassen – woraufhin sie ihm umso mehr verfällt. Es ist eine Mischung aus Demütigung und Erweckung, Selbsterniedrigung und -ermächtigung, Rache und Buße, mit der Ernaux dem gleichzeitig fremd gewordenen und allgegenwärtig verdrängten „Mädchen von 58“ nachforscht. Man spürt allerdings, wie viel Nerven die Geburt so einer grandiosen Autorin kostet, wenn die sich mit dem Leser immer wieder über dieselben Fotos beugt.
Und so sucht der Bad Reader lieber Linderung bei zwei befreundeten deutschen Autoren, Thomas Klupp und Benedict Wells, die mit ihren angenehm bekloppten Matchbox-Titeln Wie ich fälschte, log und Gutes tat (Piper) und Die Wahrheit über das Lügen (Diogenes) vielleicht etwas zu programmatisch Anschluss an das Vorangegangene suchen. Es geht eher um den Jackpot der 16-Jährigen-Literatur im Stil von Tschick bis Holden Caulfield. Klupp geht mit einer gut gelaunt abgefuckten Provinzposse um den verdrogten Tennis-Teen Benedikt „Dschägga“ Jäger (genialer Name!) an den Start, der sich in einer fränkischen Schein-statt-Sein-Hölle der Leistungsnachweise gerade so über Wasser hält, indem er mit schöner Wolf-Haas-Lakonie nie so nett werden möchte, wie er ist. Wells bemüht sich mit zu Herzen gehender Aufrichtigkeit um die klassische Kurzgeschichte, aus der er – Preis des Bestsellers – jedes allzu autobiografische Detail verbannt, wenn er von aus der Zeit gefallenen wandernden Familienvätern, Schriftstellerinnen-Musen oder existenziellen Tischtennisbattles schreibt.
Für alle gilt, was Carrère seiner Übersetzerin verrät: 1. Die Leute sind viel unglücklicher, als man glaubt. 2. Es gibt keine Erwachsenen. 3. … gibt es nicht: imaginäre Leser, Prätention, eigene Meinung.
Info
Der Widersacher. Roman Emmanuel Carrère Claudia Hamm (Übers.), Matthes & Seitz 2018, 195 S., 22 €
Erinnerung eines Mädchens Annie Ernaux Sonja Finck (Übers.), Suhrkamp 2018, 163 S., 20 €
Wie ich fälschte, log und Gutes tat. Roman Thomas Klupp Berlin Verlag 2018, 256 S., 20 €
Die Wahrheit über das Lügen. Erzählungen Benedikt Wells Diogenes 2018, 256 S., 22 €
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