Latschen wie Houellebecq

Literaturdebatte Unser Autor hasst „Flanieren“, das will er dem „Spazier-Profi der Gegenwartsliteratur“ David Wagner erklären
Ausgabe 41/2021

An einem der letzten Sonntage hatte ich mich mit David – big thrill – nachts zum Spazieren verabredet. Nachts musste sein, weil das Genre „Autoren-Spaziergang“ inzwischen doch sehr unter die Räder gekommen ist. Und David Wagner musste sein, weil er der internationale Spazier-Profi der deutschen Gegenwartsliteratur ist – aktuelle Veröffentlichungen: Verlaufen in Berlin und seine Wanderungen mit Schildkröte in Nachtwach Berlin (der Freitag 50/2020). „Nachtwach“ sollte auch unser Motto sein: Als Action-Faktor hatte ich Freitagnacht, null Uhr, „Vor der Weltzeituhr!“ vorgeschlagen. Mir hatte die Schilderung des nächtlichen Alex als ,zu gefährlich für Mädchen wie uns‘ in Ruth Herzbergs Beziehungskiller-Roman imponiert. In einer der vielen Absturz-Szenen trifft die Ich-Erzählerin in einer Bar auf einen frisch aus dem Puff gekommenen Bullen, der sie vor dem Alexanderplatz bei Nacht warnt. Alte Autoren-Hoffnung: Vielleicht würde uns ja wirklich etwas passieren!

Die zerschlug sich aber, weil David am Freitag kurzfristig seine dritte Impfung bekommen hatte. Also Sonntag, selbe Stelle, selbe Zeit. Auch das drohte zu kippen, weil der Sonntagstermin noch anders problematisch wurde: Ich war bereits nachmittags zwei Stunden spazieren gewesen (bis zum verdammten Humboldt Forum) und hatte eigentlich die Schnauze voll, David fühlte sich nur so mittel. Dann fiel mir folgender Schummelvorschlag ein, Rahmenhandlung hin, danger seeking her – dann treffen wir uns eben einfach schon um 23 Uhr vor der Volksbühne. Perfekt, David war sofort einverstanden. Da stand man also bei Polleschs Zirkuswagen mit den Aufschriften LOVE und HATE, und einmal auf dem Schummel-Trip, fällt mir noch was Besseres ein: Wir faken einfach den gesamten Spaziergang und gehen ins Prassnik, Wolfgang Herrndorfs alte Stammkneipe.

Im Prassnik ist um die Uhrzeit sogar noch einiges los. Große Apfelschorle für David, großes Bier für mich, absolute Ausnahme, normalerweise verbringe ich den Sonntag strikt muslimisch alkoholfrei. (Noch eine Idee für unseren Spaziergang war gewesen, sich zu betrinken und in Berlin zu verlaufen, aber das kann man laut David nur noch in Reinickendorf.) Das Bar-Ambiente erinnert uns an unser letztes Treffen vor anderthalb Jahren, kurz vor Pandemiebeginn, als wir bereits nicht mehr ins offen rumstehende Salzgebäck griffen und noch keine Ahnung hatten, was auf uns zukommen würde. Zeit, David endlich mit dem entscheidenden Twist für meinen Text über ihn zu konfrontieren: dass und wie ich Spazieren hasse! Und zwar alles daran: das Gemächliche, Schlendernde, Rentnerhafte, Sonntägliche. Das Stehenbleiben und Rumgucken. Den Begriff „Flanieren“. „Wenn ich rausgehe“, sage ich, „dann will ich mich auspowern und vergessen, anschließend die Gnade der Erschöpfung spüren.“

Ich weiß nicht, ob ich wirklich „Gnade der Erschöpfung“ sagte, David lächelt sofort amüsiert und milde über die Idee, dass er mich jetzt gewissermaßen vom Gegenteil überzeugen soll. Er ist einer der klügsten, kultiviertesten Autoren, die ich kenne. Vor allem, ohne dies jemals raushängen zu lassen. Und so wusste er natürlich auch, dass alles Anti längst im Wesen dessen, gegen das es angeht, hängen geblieben ist (meine gleichzeitige Sehnsucht nach einem altersgerechteren Großstadt-Intellektuellen-Lifestyle mit Zeitunglesen im Haliflor, wie ihn David kultiviert und ich ihn nie richtig aushalte, ohne mich gleich der Pose zu bezichtigen). Er ging also nicht sofort direkt auf mich ein (und ich verzichtete dann auch erst mal darauf, ihn mit weiteren Routinen aus meinem Leben zu behelligen).

Außerdem mag er keine Dialoge. Das sagte mir David Wagner bereits bei unserem letzten Barbesuch vor anderthalb Jahren: „Ich mag keine Dialoge in Romanen“ (sinngemäß). Also verwerfe ich die Idee, unseren nächtlichen Spaziergang in reiner Dialog-Form zu schreiben. Stattdessen hier die Synopsis unseres weiteren Gesprächs im Prassnik: Wir sprechen weiter eher nicht übers Spazieren, sondern lieber über das, was David gerade liest und schreibt. Lesen: von Judith Hermanns neuem Roman nur die erste Seite. Chinesische Literatur, eine Heldinnen-Saga, wo es mitten im Roman ausführlich darum geht, wie Frauen sich „sprudelnd“ erleichtern (ein Thema, das uns später noch beschäftigen wird).

Eine gewisse Faulheit

Schreiben: David arbeitet an einem Buch über eine ältere Türkin und deren bewegtes Leben. Die Frau hat vier Ehen hinter sich und hat in verschiedenen Kulturen gelebt, David besucht sie gerade immer wieder in der Türkei, wo die weit rumgekommene Leserin ihm gern sagt, wie sehr sie deutsche Gegenwartsliteratur verachtet (nichts los), was David zu der Weltklasse-Replik verleitet: „Ist doch okay, unsere Großväter wollten noch Russland erobern, wir müssen uns jetzt erst mal ausruhen.“

Das erinnert mich daran, warum ich David Wagner so mag: eine gewisse Faulheit, die ich vielleicht nur auf ihn projiziere und jedenfalls als wichtiges Handicap für Literatur begreife. Eine Geschichte muss so gut sein, dass sie auch ein bisschen Faulheit beim Aufschreiben aushält. Während dem einfach nur Fleißigen im allgemeinen Arbeitseifer ständig zu viel Belangloses oder Überambitioniertes in den Text hineinzufließen droht. Und dass David Wagner bei einigen nicht so beliebt ist (wegen des Erfolgs von Leben, der großartig erotomanen Krankenhausgeschichte seiner Lebertransplantation? Wegen der leichten bundesrepublikanischen Lebensmüdigkeit, der er sich in seinem Vater-Roman Der vergessliche Riese so knallhart aussetzt?), gefällt mir auch gut.

Aber das behalte ich jetzt für mich. Denn es ist inzwischen Montag, was wir daran merken, dass die junge Gruppe am Nebentisch laut „Happy Birthday“ für jemanden singt. Zeit, das Prassnik zu verlassen, um endlich doch noch ein bisschen draußen rumzulatschen. Wir laufen die Torstraße runter und dann die Brunnenstraße hoch, an neuen Gebäuden und Geschäften vorbei, die David mir erklärt und die mir beim Vorbeiradeln nie auffallen, auch weil ich mich nicht so für Architektur interessiere.

Im Gehen haben wir endlich auch die Muße dafür, uns ein wenig mit Spazieren zu befassen: die richtigen Schuhe (er: New Balance Jogger, ich: adidas Niteball), Rucksack oder Umhängetasche (Umhängetasche), Notizbuch dabei, ja oder nein, neue Routen oder immer dieselbe (beides). David fährt sogar mit den Öffentlichen in die Outskirts und geht dann zurück, um auf die von Michel Houellebecq empfohlenen zwei Stunden Minimum zu kommen. Schließlich: Was machen, wenn man in Bekannte oder Freunde reinläuft (stehen bleiben, kurz reden – passiert ihm dauernd, und das mag David gerade am Spazieren: das Sehen und Gesehen-Werden). Oder, noch wichtiger, wenn man länger unterwegs ist (und gerade in der Pandemie mit den geschlossenen Cafés ein Riesenproblem): Was, wenn man pinkeln muss? David empfiehlt, zur Not in die Büsche zu gehen (nicht so ideal, wenn man mit Frauen unterwegs ist, die man noch nicht lange kennt). Was ist das ideale Tempo gegen die Melancholie und all die Vergangenheit (Stadt und eigene), die beim Spazieren jederzeit hochkommen kann? Vielleicht gehen wie die Geher, denen David bei Olympia nachts gern zugeschaut hat. Er probiert es kurz aus – ein Fuß muss immer Bodenkontakt haben, die Knie dürfen nicht zu sehr gebeugt werden (sonst ist es Laufen). Je mehr man über das Gehen wissen will, merke ich, desto größer die Gefahr, zum Idiot des Gehens zu werden. Das Selbstverständliche, Natürliche, Langweilige (siehe oben) ist ja eben gerade auch das Schöne daran. Wir sind jetzt tatsächlich doch noch anderthalb Stunden in die Nacht gewandert, Berlin tut die Uhrzeit gut. Uns der Perspektivwechsel auf eine Sonntagnacht, die man sonst ja komplett anders verbringt.

Abschied an der Kastanienallee. Auf dem Nachhauseweg komme ich an der Trommel vorbei, wo noch was los ist. Ich überlege kurz, da noch allein auf einen Absacker reinzugehen. Gehe aber weiter.

Andreas Merkel und David Wagner sind Schriftsteller. Kennengelernt haben sie sich in den frühen 2010er Jahren, ausgerechnet auf einem Spaziergang, bei dem auch nicht viel passierte, außer dass dreimal Leute beim Vorbeifahren vom Rad fielen

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