Gelegentlichen Lesern dieser Kolumne wird nicht entgangen sein, dass hier auch vor sozialen und charakterlichen Fehlbildungen im Umgang mit Literatur gewarnt wird. Denn es ist ja so, immerzu zuhause zu bleiben, um sich „weltabgewandt“ in Bücher zu versenken, ist das Gegenteil von einem geselligen Dasein. Normale Menschen freuen sich deshalb spätestens ab März wieder verstärkt ihres Lebens. Und selbst wenn einer das lockend Frühlingshafte eher aufdringlich findet, reißt er sich in Gottes Namen zusammen und mischt sich mal wieder unter die Leute. Weil: Draußen ist man zwar auch allein, aber wenigstens in Gesellschaft. Überhaupt: Vieles ist besser als Lesen. Fernsehen zum Beispiel! Man bleibt im Dialog, selbst wenn oder gerade weil es sich um eine dummes Programm handelt. Ach! Vereintes Lästern kann so befreiend sein.
Verhaltensauffälliges Viellesen ist bekanntlich aber auch das Erkennungsmerkmal des Strebers. Man kennt ihn noch aus Schulzeiten, und unter Autoren wie Lesern ist es im Ernstfall der Typ, der sich irgendwann so viel auf sein lange Jahre kultiviertes Outsidertum einbildet, dass er es unbedingt aufschreiben muss. Aus dem aktuellen Frühjahrsprogramm soll es heute um zwei Supra- und eine Subspezies dieser Art gehen.
Zuerst kommt man ja immer auf Durs Grünbein, hochdekorierter Inbegriff des klassischen Suhrkamp-Strebers, zu den vielen seiner Bücherpreise gehört der Büchnerpreis aus dem Jahr 1995. Kaum eine Verlagsvorschau ohne sein Isolde-Ohlbaum-Klassenbester-Foto und neuen Leistungsnachweis. Aus der Traum (Kartei) heißt nun die neueste, 570 Seiten schwere Hebung aus der Ablage Papierkorb. Das Cover zieren flüchtig der Ewigkeit oder morgendlichen Ödnis am Schreibtisch abgelauschte Zeilen in des Dichters Originalklaue (darf sonst nur Handke!): „Die produktive Trauer darüber,/ daß alle Tage unumkehrbar/ sind …“
Was ein „Fundbuch“ aus „Aufsätzen, Reflexionen, Reden, Traumnotizen, Vorträgen, Sprechertexten und Gedichten“ (Klappe 1) sein will, entpuppt sich leider als prätentiöses Stilblüten-Schatzkästlein. Grünbeins seltsam zusammengeschraubte Baukastensprache klingt dabei mit ihrer „Idee eines phantasiegeleiteten Widerstands gegen den Fetisch kruder Realität“ (Klappe 2) zuverlässig eher nach einem Abenteuerland, in dem man unfassbar müde wird.
Etwa wenn es in dem 35-teiligen Reisepoem Sarajevo. Danach am Ende vor allem darum geht, mit ein bisschen Bananenlyrik bei den Bedeutsamkeits-Exzessen des weltpolitischen Karnevals mitzufeiern: „Vier Jahre Belagerung,/ bis Kingkong Amerika/ die Geduld verlor…“, später sind „die Ölscheichs … da!/ Allah sei Dank, Hurrah./ Die Investoren kommen./ sie kaufen sich ein/ in den Fußgängerzonen,/ sie zaubern die Malls/ aus dem Boden,/ Hotels und Moscheen:/ Sie bringen die Dollars.“
Durs Grünbein kann aber auch als Essayist eine Qual sein. Zum Beispiel wenn er eine „Gruppe junger Menschen beobachtet, dem Krachen ihrer Surfbretter lauscht, ihren angesagten Songs zuhört, ihre Gesten studiert…“ – Surfboard, Skateboard, scheißegal: solange man auch als Ossi empfänglich bleibt „für die Botschaft der Insubordination“ der Liedermacher oder „Singer-Songwriter, wie man im Englischen Leute nennt wie Bob Dylan oder Leonard Cohen“.
Die Texte sind stellenweise so schlecht, dass man zwischendurch kurz zweifelt, ob man hier nicht einer großen Selbst- und Betriebsverarschung aufsitzt. Mittel- statt Zeigefinger für die 80-jährigen Sinn und Form-Leser, die diese erschöpfte Zettelwirtschaft womöglich noch goutieren.
Wirklich abgefeiert wird hingegen gerade das Streber-Genre schlechthin: der historische Roman. Hier in Form von Kenah Cusanits Debüt Babel. Vom angezählten Hanser-Verlag womöglich als eine Art literarische Wiedergutmachung hochgejazzt für die Schäden, die Takis Würgers Stella anrichtete, wurde Babel bereits für den Leipziger Buchpreis nominiert und leider auch schon zum Fall für das TV-Litereraturformat Druckfrisch. Merke: wer sonntagnachts nicht rechtzeitig den Weg ins Bett gefunden hat (oder törichterweise niemanden zum Lästern eingeladen hatte), bleibt nicht ungestraft und wird vom schwäbelnden Säuselmonster ohne Punkt und Komma vollgeschleimt.
Das geht dann so: „spektakuläres Debüt ... teilweise sehr herzhaft lachen müssen und blendend amüsiert. ... Ein Buch turmhoch allem überlegen, was sonst in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur diesen Frühling erscheint.“
In bewährt übergriffiger Gesprächsführung lässt Moderator Scheck sein Gegenüber keinen zweiten Satz ausreden. Andererseits hat es das Buch aber auch nicht besser verdient: „1913, unweit von Bagdad“ geht es um den Archäologen Koldewey und dessen Ausgrabung samt Versendung Babylons nach Berlin (get it: Babylon! Berlin!).
Der Roman strotz nur so vor Figuren, die „Buddensieg“ heißen und in Bandwurmsätzen an akuter Konjunktivitis leiden: „Buddensieg hatte sich verabschiedet mit dem Hinweis, dass sich Wetzel in der Nähe des Hauses befinde und also Koldewey nur nach Wetzel rufen müsse, wenn es einen Grund gäbe, nach Wetzel rufen zu müssen, der dann sofort einen Boten schicken und Buddensieg informieren könne.“ – Das ist genau die Sorte Einstecktüchlein-Ironie, bei der uns teilweise zu herzhaft gelacht wird: Turmhoch überlegener Buchpreis-Favorit!
Garantiert keinen Buchpreis gewinnt der Roman M. von Anna Gien und Marlene Stark (Matthes & Seitz). Dafür wird hier stellungsweise sehr komisch der Kunstbetrieb (Berlin!) mit schwarzem Umschnall-Dildo in den Arsch gefickt. Und zwar von M. herself (Frauen heißen in diesem Buch alle mit Initial, Männer werden als Lars, Richard nur lose anfiktionalisiert – „ein Schlüsselroman ohne Schlüssel“, befand die Süddeutsche Zeitung, und wie schon bei Würgers Stella musste die Welt natürlich gegenhalten, fand, dass in M. nach allen Regeln der Popkultur etwas richtig gemacht wurde, fragt sich nur was.
M. ist neuköllner Künstlerin, DJane und Anal-Sexpertin aus dem Süddeutschen. Ihre Nächte zwischen Berlin, Ingolstadt und Tel Aviv werden mit und gegen den Systemfehler Mann durchvögelt, bis der Roman sich ohne großen Plot-Twist einreden muss, dass das Spiel jetzt nach ihren Regeln gespielt wird.
Mit diesem schicken, kleinen, gemeinen Buch wollten wir eigentlich ein bisschen Urlaub vom Streberplaneten Durs-Cusanit machen. Aber dann passierte etwas Merkwürdiges: Der Roman fickte uns (nie eine gute Rezensenten-Idee, dieses „wir“) immer öfter „hart ins Gesicht“. Yeah. So krass wird hier auf kaputt abgetextet, so sehr den you-know-alten 80er- und 90er-Exzessen hinterheraufgelegt, dass hinter der wilden Rebellin without a Klaus bald doch nur wieder die nächste Szene-Streberin zum Vorschein kommt. Schreibhölle Nonkonformität: Alle sind genauso anders, wie man sich das immer vorgestellt hatte.
„Max, ein Labeltyp aus Luxemburg, der mich auf Instagram angeschrieben hat, weil er gesehen hat, dass ich am Samstag im Monarch auflege, kommt auch. Er ist halb Fan, halb Tinderdate, und weil er ganz lieb ausschaut auf seinen Fotos und so viele Follower hat, habe ich ihn auch zu dem Essen eingeladen. J. hat Torn Pecker Schmuck, ihrem erstaunlicherweise immer noch aktuellen Boytoy, von der Sexgruppe erzählt und ihn mitgebracht, damit er sich das mal anschauen kann.“
Lange Monate bin ich früh oder auch spät geschlafen gegangen, jetzt endlich geht es wieder nach draußen.
Info
Aus der Traum (Kartei) Durs Grünbein Suhrkamp 2019, 573 S., 20 €
Babel Kenah Cusanit Hanser 2019, 272 S., 23 €
M. Roman Anna Gien & Marlene Stark Matthes & Seitz 2019, 248 S, 20 €
Wie Tati
Geboren und aufgewachsen in Rumänien, lebt und arbeitet die Illustratorin und Grafikdesignerin Andreea Dobrin Dinu heute in Hamburg. In ihrem Studio Summerkid entstehen die lustigen Zeichnungen, bei deren Betrachtung man stets ein gewitztes Detail findet, das stutzig macht, das Szenen des Alltags auf den Kopf stellt.
Die Künstlerin sagt, die Bilder sollen den Betrachter an den joie de vivre erinnern, den wir vielleicht noch aus den Sommern erinnern, als wir Kinder waren. Und tatsächlich, ihr Humor erinnert an lustige Ferien mit Monsieur Hulot.
Dinu studierte Grafikdesign in Bukarest, Illustration und Typographie in Leipzig. Im Jahr 2018 erhielt sie den britischen World Illustration Award Talent.
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