Vor der Buchmesse bin ich lieber nach Amerika (Kafka, Trump) verreist, um die zu besprechenden Bücher einem Distant Reading zu unterziehen. Von den US-Open der Ostküste bis zu den Waldbränden der Westküste spannte ich in Motelzimmern leuchtendes BAD-READING-Absperrband um Titel wie Selbstverfickung, so wie ich das im Fernsehen beim Druckfrischen mit der pinken Krawatte gelernt hatte. Dann ließ ich jeweils zwei Bücher einer Gewichtsklasse gegeneinander antreten, klassische Battle-of-Books-Situation, wie hochkompetitive Amerikaner sie lieben. Zuerst im deutschen Vorkampf Roehler vs. Höhtker, dann im internationalen Hauptkampf Ferrante vs. Moshfegh. Ring frei:
Es beginnt mit dem Gesamtnerv um Oskar Roehler in der rechten Ringecke: die schlechte Houellebecq-Kopie, die weinerliche Selbst-inszenierung als deutscher Sohn mit 68er-Eltern, die tatsächlich selbstverfickte Sprache und Papiertiger-Wut eines alternden FAZ-Leserbriefschreibers.
Für seinen schwer provokativen und eigentlich ja ganz super betitelten Roman hat sich Roehler extra einen eigenen „Gregor Samsa“ (oh Mann) ausgedacht, weil er eines Morgens merkt, dass er kein Linksliberaler ist – und damit für „die Gesellschaft“ schlimmer als Karl der Käfer. Gregor ist – Überraschung – ein genauso gut alimentierter Filmregisseur wie der Autor und hasst die Filmszene vielleicht genauso wie arabische Machos vorm KaDeWe. Gregor wäre lieber wie Thomas Mann und ohne Prostatabeschwerden, Gregor findet Charlottenburger Puffs okay. Gregor kann sich nie ganz zwischen Hybris und Selbstdemontage entscheiden, ob ein Decadent wie er in dieser Schweinewelt noch zum Kampf gegen das System taugt – oder nicht besser gleich komplett abgeschafft gehört, bevor er „Deutschland“ zu sehr schadet ... Vielleicht ist das einzig Relevante an diesem Roman, wie Roehler es bereits vorab schaffte, mit seiner Keiner-wollte-mich-verlegen-Leier (das Ding kam dann ja immerhin noch bei Ullstein raus) eine Pseudo-Brisanz zu kreieren, die die Onkels vom Feuilleton glauben ließ, diese Ablehnung und nicht der Roman selbst seien ein Symptom für die deutsche Müdigkeit und Geisteskrise. Aua, Luftschwinger.
Zum Glück heißt der Gegner im siebten Stock eines New Yorker Hotels Christoph Höhtker. Der 1967 in Bielefeld geborene, inzwischen in Genf lebende Totalsoziologe (Alles sehen!) schickt jetzt ein weiteres Mal seinen alter-egoösen Helden Frank Stremmer ins Rennen: ein psychoemotional gründlich auf den Hund gekommener PR-Mann in der Schweizer Finanzindustrie, wo auch sein Erfinder selbst so einiges erlebt haben dürfte, wie die angenehm knappe Klappentext-Bio vermuten lässt. In Das Jahr der Frauen arbeitet Frank Stremmer inzwischen für eine Genfer Bullshit-NGO, deren Chairman Raphael Gonzales-Blanco („RGB“) er eine Biografie schreiben muss, bevor sich Stremmer in enger Absprache mit seinem Analytiker endlich das Leben nehmen darf, wenn er es schafft, binnen besagten Jahres zwölf Frauen „zu verbrauchen“.
Wenn schon verzweifelter Anti-Plot, dann so: Höhtker liest sich wie die Summe der beiden besten Wirtschafts-„Narrative“ der letzten Jahre, Rainald Goetz’ Johann Holtrop und Tom McCarthys Satin Island, geteilt durch den Sound von Heinz Strunk. Dafür landet man dann schon mal auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, wo der Roman zwischen Langweilern wie Thomas Lehr und Marion Poschmann herumirrlichterte, bevor der Systemfehler mit der Shortlist wieder flurbereinigt wurde. Denn Hocherotik, wie die Edelstecher aus dem Feuilleton mäkelten, geht natürlich anders. Dafür reichen Höhtker schon wenige Zustandsbeschreibungen deutscher Gegenwart, um Poser wie Roehler auf die Matte zu schicken: Tinder wüte in den Ruinen abendländischer Beziehungskultur „wie Salzsäure, die man im Rahmen eines Experiments in die Augäpfel flauschiger Kaninchen träufelt“. Klarer Sieg durch K.o., weiter zum Hauptkampf.
Beim Flug über Flyover-Trumpland nach Portland, Oregon, denke ich noch kurz ein paar Abschiedsgedanken über deutsche Gegenwartsliteratur. Über die sagte Andrew Wylie, weltberühmtester Literaturagent, mal: Da gebe es herzlich wenig zu vertreten, eigentlich bloß Christian Kracht, und auch den nur auf Vermittlung durch Knausgård. Also keine deutsche Nachfolgerin auf den Hype um die Italienerin Elena Ferrante in Sicht, die im Durchlauferhitzer New York zu so einem großen Enigma gemacht wurde, dass die Jagd nach ihrer Identität pynchoneske Ausmaße annahm.
Die Bad-Reading-Battle beginnt allerdings mit einer Beichte: Noch nie habe ich mehr als drei Seiten eines Buches von Elena Ferrante gelesen. Weil es mir sofort von meiner Frau aus der Hand gerissen wurde. Die Geschichte der getrennten Wege nimmt P. so sehr mit, dass sie mir abends im Motelzimmer die Handlung um Lenù und Lila so detailliert nacherzählt, als würden wir gemeinsam die HBO-Serie gucken. Erst wenn P. schläft, kann ich kurz ins Buch selbst reinlesen: Lenù und Lila (in Wirklichkeit eine Person?!) „schlenderten früh am Morgen unsere Straße, den Stradone, entlang, und wie nun schon seit Jahren gelang es uns nicht, uns miteinander wohlzufühlen“. Besser wäre, man würde reden, aber „verschwiegene Gedanken“ quälen die beiden Freundinnen, dann wird im Rione eine Frauenleiche gefunden.
Am nächsten Morgen erklärt mir P., dass sie sich zwischendurch auch wundert, warum sie dranbleibt. Aber irgendwie gelinge Ferrante immer wieder das genau richtige Mischungsverhältnis aus Kitsch, Reflektion und Action. Und sie leide mit ihrer klaren Sprache ausnahmsweise mal nicht an „weiblicher Selbstmystifikation“.
Damit darf Ferrante gern gegen Ottessa Moshfegh antreten, die in den USA als größtes Talent gehandelt wird (vgl. auch Bad Reading, Folge 1) und jetzt ihren zweiten Roman auf Deutsch draußen hat, Eileen. Auf die 1981 in Boston geborene Autorin stieß ich bereits vor Jahren durch ein charmantes L.A.-Times-Porträt (wollte eigentlich Pianistin werden, das war aber noch schwieriger als Schreiben, ist Ex-Alkoholikerin, springt gern Seil). Für Eileen hat sich Moshfegh nun eine etwas zu graumäusige Anti-Heldin ausgedacht, die im Jahr 1964 etwas zu sehr in die eigene Hässlichkeit verliebt ist, mit ihrem Alki-Ex-Cop-Dad zusammenlebt und im Jugendgefängnis arbeitet.
Angeblich wollte Moshfegh mit Eileen auch mal einen Krimi-Bestseller landen, hat sich dafür sogar extra einen 90-Tage-Schreibratgeber besorgt (und gleich wieder weggeschmissen). Schlimme Dinge werden in leitmotivischer Wiederholung redundant aufgeblasen, als litten alle Leser längst an Smartphone-ADHS-induzierter Vergesslichkeit. So erlebe ich „Eileens“ furioses Finale nur, weil ich – wegen P.s ausführlicher Ferrante-Nacherzählungen! – erst im Flieger zurück dazu komme, den Roman ganz durchzulesen. Dank transkontinentaler Schlaflosigkeit bleibt man dran: während um mich rum alle schlafen, auf stummen Monitoren Gone Girl läuft und die Wahl in Bad Old Germany schon entschieden ist.
Der letzte Kampf dieser Reise geht unentschieden 0,5 zu 0,5 aus. Keins der Bücher wurde ernsthaft verletzt, das BAD-READING-Absperrband flattert noch irgendwo am Pazifik.
Info
Selbstverfickung Oskar Roehler Ullstein 2017, 272 S., 20 €
Das Jahr der Frauen Christoph Höhtker weissbooks 2017 , 250 S., 22 €
Die Geschichte der getrennten Wege (Die neapolitanische Saga 3) Elena Ferrante Karin Krieger (Übers.), Suhrkamp 2017, 540 S., 24 €
Eileen Ottessa Moshfegh Anke Caroline Burger (Übers.), Liebeskind Verlag 2017, 336 S., 22 €
Die Bilder dieses Spezials
Blitzdings Max Slobodda, Fotograf dieser Beilage, wurde 1987 geboren und lebt heute in Dortmund. Sein Fokus liegt auf der Straßen- und Dokumentarfotografie, zudem entstehen inszenierte Projekte, wie derzeit die surrealistische Arbeit Phos Noise: „Es geht um die Dekonstruktion der Wirklichkeit, um das Unbegreifliche, für das es nicht sofort eine logische Erklärung gibt (...). Jeder entscheidet selbst, was er denkt und fühlt, wenn er sich die Bilder anschaut. Ganz ohne Vorgaben, ganz ohne Erklärung.“
Max Sloboddas Arbeiten wurden in internationalen Publikationen präsentiert, in Guardian, Vice, Lensculture und iGNANT.
Zum Verkauf steht eine limitierte Auflage aus der Phos-Noise-Reihe, 30 x 45 cm, gerahmt, 10 Stück pro Motiv. Mehr Informationen auf slobodda.de. Mehr Fotos auf Instagram: @sloboddaphoto.
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