Eine der beliebtesten Meinungen im Austausch mit Leuten, die immer noch Bücher (oder sogar Romane) lesen, ist, dass diese Menschen es nur sehr schwer ertragen, ein einmal angefangenes Buch (oder sogar einen einmal angefangenen Roman) nicht zu Ende zu lesen. Speziell für diese Zielgruppe möchte ich heute erzählen, wie ich mal mit drei Büchern in die großen Leseferien (Nordamerika, Westküste) gereist bin, auf die ich mich besonders gefreut habe.
„Tausend deutsche Diskotheken“ (Ullstein), das Romandebüt des 1987 geborenen Michel Decar – ein Autor, der seine Theaterstücke Philipp Lahm oder Helmut Kohl läuft durch Bonn nennt, kann kein schlechter sein! – versuchte ich in Vancouver zu lesen. Ich saß auf einem Hotelzimmerbalkon im siebten Stock mit Blick auf das Schwulen-Ausgehviertel, durfte nicht rauchen und fragte mich fünf Tage lang, ob das Al Bano war, der mich von Decars Buchcover aus ansang, so sehr langweilte mich die Umsetzung der eigentlich guten Romanidee, einen Helden sinnlos auf der Suche nach Madonnas White Heat (Get up stand tall / Put your back up against the wall / Cause my love is dangerous) durch die Discos der untergehenden BRD zu schicken. Leider hat sich Decar dazu eine komplett egale, metaparodistische Krimihandlung um den Privatdetektiv Frankie ausgedacht, der einen „zucchinigrünen“ Opel Admiral fährt, Bacardi-Cola trinkt, eine Ex-Freundin namens Sabine Czerny hat und jetzt den Industriespionage-Erpressungsfall um einen Bahnvorstand namens Mauke aufklären soll. Allein schon die Namen („Mauke“) deuten den ironisch erzählten Sparwitz an, den sich Decar mit seinen Lesern erlaubt. Als Frankie für die bekloppte Romanhandlung seines Autors vor dem „Titanic City“ schwer was aufs Maul bekommt, tröstet ihn seine Mutter mit dem besten Zitat des Buchs: „Das Titanic City, die Bundesregierung, Timothy Dalton und die Vororte von Kassel werden von den Jahrhunderten zermahlen. Selbst die Jahrhunderte werden irgendwann von den Jahrhunderten zermahlen.“
Das war dann gleich zu schlau für den schweren 80er-Jetlag des restlichen Romans, den ich trotzdem nicht weitergelesen im Greyhoundbus nach Portland mitschleppte, wo ich mir von Ottessa Moshfeghs My Year of Rest and Relaxation (Penguin, Ende September bei Liebeskind) Lese-Erholung erhoffte. Moshfegh ist, seit ich sie vor drei Jahren in einem Motel in Palm Springs zum ersten Mal in einem LA-Times-Interview entdeckte (wo sie über ihre iranisch-kroatische Herkunft und ihren Alkoholismus sprach und dass sie klassisches Piano gelernt hatte, was aber noch anstrengender als Schreiben sei, wovon sie sich mit Seilspringen erholt), mit drei Büchern (Mc Glue; Eileen; der Short-Story-Sammlung Homesick for Another World, vgl. frühere Bad Readings!) zum Star der US-Literaturszene geworden. Auch My Year of Rest and Relaxation könnte das Buch der Stunde sein: Eine modelhübsche Erzählerin beschließt im Zentrum des spätkapitalistischen Hedonismus (New York 2000) ein Jahr lang auf Psychopharmaka zu verschlafen. Das liest sich, wie die New York Times fand, als hätte Fassbinder Sex and the City gedreht, aber auch wie eine vom eigenen Talent gelangweilte Fingerübung in Figurenvorführung. So arbeitet die Schläferin als Empfangsdamen-Bitch in einer Galerie für Jackson-Pollock-Masturbations-Paintings, hat einen American-Psycho-Banker-Boyfriend und hasst die Hipster an ihrer Uni auf eine Weise, die selbst hipsterhaft ist: „,Dudes’ reading Nietzsche on the subway, reading Proust, reading David Foster Wallace, jetting down their brilliant thoughts into a black Moleskine pocket notebook. Beer bellies and skinny legs, zip-up hoodies, navy blue peacoats or army green parkas, New Balance sneakers …“
Im Flieger nach Los Angeles verstaue ich diesen etwas zu coolen, zu smarten Kommentar zum gegenwärtigen Amerika (auch nach 100 Seiten natürlich keine „Entwicklung“ erkennbar) dann endgültig im Handgepäck und gebe dann noch mal eine Woche lang in der Hippiekommune Ojai (sprich „Oh Hi“) Roberto Bolaños Geist der Science-Fiction (Fischer) keine Chance. Denn wie jeder Nicht-Fan (also schon mal nicht ich) hätte ahnen können, ist dies die hoffentlich letzte Leichenfledderei aus dem Nachlass. Zu leichtfertig hat Bolaños Witwe dem New Yorker Agenten Andrew „Der Schakal“ Wylie die Weltrechte noch an der hinterletzten Textdatei des 2003 verstorbenen 2666-Autors verkauft. Diese hinten im Buch als Faksimile abgedruckte Kladde („Blanes 1984“, handgeschrieben) ist im Leben kein Roman, sondern ein paar Übungen in jim-morrisonesker Lyrik und 70er-Jahre-in-Mexiko-Leitmotivik, bei denen der Autor nicht gestört werden wollte. Zwei junge Dichter und eine den Literaturbetrieb verarschende „Kartoffelakademie“ gibt es natürlich auch, aber wir warten lieber auf die Neuübersetzung der fantastischen Telefongespräche im nächsten Jahr.
Am Ende der Reise sind wir schließlich in einem Air-Bnb in Los Angeles und streiten uns darüber, welches Buch man für zukünftige Gäste im fremden Haus liegen lassen darf. Die deutschen Diskotheken wandern in den Papiermüll. Ottessa und Roberto dürfen halb gelesen mit uns den Heimweg nach Deutschland antreten.
Info
Tausend deutsche Diskotheken Michel Decar Ullstein 2018, 240 S., 20 €
My year of rest and relaxation Ottessa Moshfegh Penguin Press 2018, 304 S., ca. 12 €
Der Geist der Science-Fiction Roberto Bolaño Christian Hansen (Übs.) Fischer. 2018, 256 S., 22 €
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