Für die Sonderkommission des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg ist es am 23. Juli 1959 keine gewöhnliche Festnahme. Der Haftbefehl vom Amtsgericht Karlsruhe richtet sich gegen einen ranghohen Kollegen: Der Leiter des Landeskriminalamtes (LKA) Rheinland-Pfalz, Kriminaloberrat Georg Heuser, ist dringend verdächtig, als Gestapo-Chef von Minsk für den Mord an Zehntausenden Juden verantwortlich zu sein. Widerstandslos lässt sich der Kurgast Heuser im hessischen Bad Orb festnehmen. Er scheint wenig überrascht. Als Leiter des LKA weiß er vom plötzlichen Ermittlungseifer der bundesdeutschen Justiz, die sich jahrelang kaum für die Verfolgung von NS-Verbrechen interessiert hat.
Aber zu diesem Zeitpunkt hat ein Prozess vor dem Landgericht Ulm gegen Angehörige eines Einsatzkommandos wegen Mordes an Juden im deutsch-litauischen Grenzgebiet Öffentlichkeit und Politik aufgeschreckt. Es geht um Massenerschießungen nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Kurz nach dem Ulmer Verfahren wird in Ludwigsburg eine Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen gegründet, um nationalsozialistische Gewaltverbrechen aufzuklären und eine unbequeme Vergangenheit abschließend aufzuarbeiten. Dabei stoßen die Ermittler auf immer neue Tatkomplexe und Verdächtige wie Erich Ehrlinger, der als Führer eines Sonderkommandos der Sicherheitspolizei im Sommer 1941 die Exekution von mehr als 6.000 Juden in Litauen und Weißrussland befehligt hat. Der Leiter der VW-Vertretung in Karlsruhe beschuldigt in den Vernehmungen seinen ehemaligen Mitarbeiter Heuser schwer: „Wenn ich gefragt werde, wie sich Dr. Heuser zu dem Problem der Erschießungen verhielt, kann ich von ihm nicht behaupten, dass er besonders zurückhaltend war.“
Gute Englischkenntnisse
Der Kriminalist Heuser hat wie andere alte Kameraden, die im NS-Staat für Deportationen und Massenmord verantwortlich waren, nach 1945 in den Staatsdienst zurückkehren können. Nur für wenige bedeutet die plötzliche Aktivität der bundesdeutschen Justiz zugleich das Ende dieser zweiten Polizeikarriere. Glimpflicher als Heuser kommt sein Bremer Kollege Karl Schulz davon, von den Kameraden liebevoll Karlchen genannt. Schulz, der nach Abbruch des Jurastudiums 1932 zur Polizei geht, folgt 1941 Reichskriminaldirektor Arthur Nebe als Adjutant in den „Osteinsatz“. Die von Nebe geführte Einsatzgruppe B exekutiert bis Ende 1941 in Belarus mehr als 45.000 Menschen: Juden, Kommunisten, Kriegsgefangene, Sinti und Roma.
Im Reichskriminalpolizeiamt steigt Schulz zum Gruppenleiter Wirtschaftskriminalität auf. Vor Kriegsende setzt er sich mit anderen Mitarbeitern des SS- und Polizeiapparats nach Norddeutschland ab und wird dank guter Englischkenntnisse bei der britischen Besatzungsmacht angestellt. In der Nachkriegszeit, als der Schwarzmarkt blüht, ist die Expertise eines Wirtschaftskriminalisten gefragt. So stellt die Polizei in Schleswig Holstein bereits 1947 den ehemaligen SS-Hauptsturmführer ein. Schließlich haben ihn die Briten „entnazifiziert“. Fünf Jahre später steht Schulz als Oberregierungsrat an der Spitze des Bremer LKA. Dann jedoch wird gegen ihn wegen des Einsatzes von Gaswagen ermittelt. Schulz muss zugeben, davon gewusst zu haben, leugnet aber, bei der ersten „Probevergasung“ von Geisteskranken in Mogilew dabei gewesen zu sein. Die Staatsanwaltschaft Bremen schließt 1960 die Akten – Schulz kann acht Jahre später unbehelligt in den Ruhestand gehen.
Auch der Leiter des LKA Niedersachsen, Dr. Walter Zirpins, muss sich wegen seiner NS-Vergangenheit niemals vor Gericht verantworten. Der promovierte Jurist aus Oberschlesien, ab 1927 im Polizeidienst, hat zu den profiliertesten Kriminalisten des NS-Staates gehört und unter anderem nach dem Reichstagsbrand vom Februar 1933 ermittelt. An der Führerschule der Sicherheitspolizei in Charlottenburg schult er Kader von Gestapo und Kripo, ab 1940 leitet er die Kriminalpolizeileitstelle in Lodz, wo die Deutschen das zweitgrößte Ghetto im besetzten Europa errichten. Diesen Ort des Grauens, in dem fast 200.000 Menschen gequält werden, beschreibt Zirpins in einer NS-Fachzeitschrift als „Zusammenpferchung von Kriminellen, Schiebern, Wucherern und Betrügern“.
Als „entlastet“ eingestuft, bewirbt sich Zirpins 1947 für die Leitung der Kriminalpolizei in Niedersachsen. Zwar zögert das Innenministerium, doch machen sich ehemalige Schüler für den „alten Sherlock-Holmes“ (Der Spiegel) stark, so dass Zirpins ab 1951 als Oberregierungs- und Kriminalrat die gewünschte Funktion übernehmen kann. Als die DDR Ende der fünfziger Jahre die westdeutschen Funktionseliten wegen ihrer braunen Vorgeschichte attackiert, gerät auch der als „Gestapochef von Niedersachsen“ bezeichnete Zirpins ins Visier. Die aufgrund von Anzeigen eingeleiteten Ermittlungen werden freilich bald eingestellt. Auch nach seiner Pensionierung 1960 bleibt Zirpins aktiv: Er berät Fritz Tobias, Spiegel-Autor und Mitarbeiter des niedersächsischen Verfassungsschutzes, bei dessen Serie über den Reichstagsbrand und schreibt Bücher zur Wirtschaftskriminalität.
Der einzige LKA-Chef, der einer Strafverfolgung nicht entgeht, ist tatsächlich Georg Heuser. Mit zehn Mitarbeitern seiner Minsker Dienststelle von einst muss er sich ab Herbst 1962 vor dem Schwurgericht Koblenz verantworten. „Bei fast allen Angeklagten steht die inkriminierte SS-Tätigkeit von gestern im grotesken Widerspruch zu ihrem reputierlichen Bürger-Beruf von heute“, stellte der Spiegel fest. Heuser hat sich nach dem Jurastudium 1939 bei der Kriminalpolizei beworben. Von der Führerschule der Sicherheitspolizei in Charlottenburg, die er als Lehrgangsbester beendet, geht es 1941 zunächst nach Berlin und dann zu Mordeinsätzen ins Baltikum und besetzte Weißrussland.
Vorzeitige Entlastung
Nach Kriegsende frisiert Heuser seinen Lebenslauf und schlägt sich mit Hilfsarbeiten durch. Erst 1954 gelingt ihm, ausgestattet mit falschen Zeugnissen, die Rückkehr in den Polizeidienst. Sogar der Doktortitel, den Heuser trägt, hat er niemals erworben, wie das Gericht feststellt. Die Empörung darüber, dass dieser Mann eine Spitzenposition in den Sicherheitsbehörden erschlichen hat, ist indes scheinheilig. Denn Legenden, Täuschungen und Persilscheine sind das Entree-Billett der NS-Täter in die bundesdeutsche Gesellschaft. Wer es wieder in den Polizeidienst geschafft hat, hilft bereitwillig alten Kameraden mit Leumundszeugnissen und Empfehlungsschreiben. So lobt Johannes Hoßbach, persönlicher Referent des BKA-Präsidenten Hans Jess, Heuser 1954 als „eine der wenigen Persönlichkeiten, die in Theorie und Praxis gleichermaßen begabt sind“. Heuser war Hoßbachs Vorgesetzter in jener Einsatzgruppe, die 1944 in der Slowakei Partisanen und Juden jagt. „Von dem, was Heuser heute an Verbrechen in den Jahren 1941 bis 1944 vorgeworfen wird, hat er mir nie etwas erzählt“, beteuert Hoßbach, als Heuser vor dem Schwurgericht Koblenz steht. Dessen Urteil lautet am 21. Mai 1963: Wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 11.000 Menschen wird der Angeklagte zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Dezember 1969 wird Heuser vorzeitig entlassen.
„Was sind das eigentlich für Beamte, die heute hinter den Schreibtischen unserer Kripoämter sitzen“, fragte Dietrich Strothmann, der damals für die Zeit den Prozess gegen Heuser beobachtet. So genau wissen will es eigentlich niemand. Heuser, Schulz und Zirpins gelten als erfahrende Kriminalisten und sind nun der Demokratie zu Diensten. Von den kriminalbiologischen Leitbildern des NS-Staates haben sie sich stillschweigend verabschiedet und ihre Vergangenheit mit Legenden vernebelt, die bereitwillig geglaubt werden. „Es ist an der Zeit, daß die Polizei mit sich selbst ins Gericht geht“, fordert Strothmann 1962. Es soll noch mehr als 30 Jahre dauern, bis sie dazu bereit ist.
Andreas Mix schrieb an dieser Stelle bereits über den Widerstand des Ehepaars Hampel gegen die NS-Diktatur
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.