Der Zeuge, der keiner sein durfte

Schicksal Erwin Jöris saß in fast allen Lagern des 20. Jahrhunderts. Am 5. Oktober wird der Kommunist nun 100 Jahre alt. Sein Biograph über ein Jahrhundertleben
Der Zeuge, der keiner sein durfte

Die Biografien deutscher Kommunisten im Sowjetexil wurden in den Terrorjahren 1937/38 entschieden. Damals nämlich wurden mehr von ihnen ermordet als unter Adolf Hitler. Diese Jahre waren eine Wasserscheide. Und auch Erwin Jöris, 1912 geboren und ein Berliner Urgestein, überlebte damals nur mittels eines hochriskanten Unterfangens. Der ehemalige Lichtenberger Unterbezirksleiter des Kommunistischen Jugendverbandes hatte kommen sehen, dass die sowjetischen Genossen ihn nach Sibirien bringen wollten und beantragte deshalb in der nationalsozialistischen Botschaft in Moskau einen Pass für Deutschland. In Berlin erwartete ihn ein Prozess wegen Hochverrats.

Dieser Plan brachte ihm eine Verhaftung durch den sowjetischen Geheimdienst ein. Nach qualvollen Monaten im berüchtigten Untersuchungsgefängnis Lubjanka lieferte man ihn dann doch an die Gestapo aus. Die ließ ihn nach einem halben Jahr laufen, wohlwissend, dass ihm im mittlerweile braunen Lichtenberg des Jahres 1938 kaum einer mehr über den Weg trauen würde.

Lubjanka, Sonnenburg

Dennoch wollten einige der ehemaligen Jugendgenossen, mit denen er als Frontmann in die Straßenschlachten der untergehenden Weimarer Republik gezogen war, von ihm wissen, wie es in Moskau gewesen war. Aber Erwin Jöris schwieg. Er wollte ihnen nicht die Hoffnung nehmen und mit der Wahrheit über den Stalinismus den Nazis in die Hände spielen. Und er dachte dabei an seine erschossenen Freunde aus dem Untergrund, und an die SA-Keller, in denen er traktiert wurde, das Konzentrationslager Sonnenburg, wo er Carl von Ossietzky und Erich Mühsam begegnet war. Erst als 1939 der Hitler-Stalin-Pakt bekannt wurde, grinste er die an, die ihn für einen NS-Spitzel gehalten hatten: „Na, darf ich euch zur neuen Freundschaft gratulieren?“

Dann wurde Erwin Jöris eingezogen und musste mit der Wehrmacht gen Osten – in einen Krieg, gegen den er all die Jahre gekämpft hatte. Als LKW-Fahrer für ein Militärkrankenhaus in der West-Ukraine verbrachte er die Kriegsjahre und überlebte den Rückzug nur knapp. In den endlosen Gefangenenzügen nach der Kesselschlacht von Halbe humpelte er schwer verwundet Richtung Osten und landete schließlich in einem sowjetischen Gefangenenlager vor den Toren Moskaus. Den Ort kannte er von seiner Komintern-Zeit, als sie zu Sonntagsausflügen vom berühmten Hotel Lux aufgebrochen waren. Aber die Zeit verschwieg er. Anfang 1946 stand er wieder in der Lichtenberger Kohlehandlung seines Vaters. Was sollte werden? Wieder trat er in die KPD ein und damit auch bald in die SED.

Aber da waren seine Mitgenossen aus der Weimarer Zeit, Moskau-Überlebende wie er. Von der Parteispitze hatten nur drei Männer die Sowjetunion überlebt: Wilhelm Florin, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Im Chor der Rückkehrer sang man propagandistische Loblieder auf das „Vaterland der Werktätigen“ und schwieg über den Großen Terror von 1937/38. Man einigte sich auf eine „Verschwörung des Schweigens“. Sie wurde das Politikfundament des neuen Staates.

Jöris arbeitete hart, suchte alte Genossen auf und ging mit ihnen zu den Parteiveranstaltungen. Aber die herablassende Art der nun zurückkehrenden stalinistischen Alles-Wisser, die die Kominternschulen durchlaufen hatten, ärgerte ihn. Jene, die zwölf Jahre im Untergrund ausgeharrt hatten, sollten nun nach ihrer Pfeife tanzen. Vor allem aber brachte ihn die schnelle Parteiaufnahme ihrer ehemaligen Feinde auf. „Und schon lief mancher von den alten Nazis mit dem SED-Parteibombel rum und stand als Kandidat auf der Einheitsliste.“ Da schwieg Jöris nicht mehr und erzählte von den Moskauer Schreckensjahren.

Im Dezember 1950 wurde er in seiner Ost-Berliner Wohnung verhaftet, saß Monate in den unterirdischen Zellen des U-Boots in Hohenschönhausen und wurde schließlich von einem russischen Militärtribunal unter den gleichen Anwürfen wie 1937 – konterrevolutionäre-faschistische Tätigkeit – zu 25 Jahren Gulag verurteilt. Wieder stand er gedrängt in einem Gefangenenwagen im Berliner Ostbahnhof. Diesmal ging es nach Workuta, ins Ewige Eis. Unter dem dauergefrorenen Boden im hohen Norden der Sowjetunion, in 900 Meter Tiefe, schlug er Kohle, zusammen mit einem der schlimmsten Wärter und Mörder aus dem KZ Sachsenhausen.

Hohenschönhausen, Workuta

Dann starb Stalin, der Lageraufstand in Workuta wurde zusammengeschossen, und Konrad Adenauer holte nach seinem Besuch 1955 alle deutschen Kriegsgefangenen heim. Ausgemergelt bis auf die Knochen stand Erwin Jöris fünf Jahre nach seiner Verhaftung auf der Berliner Stalinallee vor seiner Frau Gerda, die nicht gewusst hatte, ob er überhaupt noch lebte. Zwei Tage später flohen die beiden in der Straßenbahn nach West-Berlin und fanden sich schließlich in Köln in einem ehemaligen Tanzsaal mit 30 Familien wieder.

Und seine Erfahrungen? Es war wenig Zeit zum Erzählen. Das Leben musste sich auch in Westdeutschland neu erfinden. Oft arbeitete er zwei Schichten hintereinander in einem Lebensmittelkühlhaus. „Aber eigentlich gab es mich gar nicht“, sagt er. „Es war immer nur die Rede von ‚den letzten deutschen Kriegsgefangenen’, den verurteilten Kriegsverbrechern. Die DDR leugnete die vielen Politischen unter den Verschleppten, und der Westen erwähnte sie nicht.“ Nur einmal, als im Betrieb das Gerücht aufkam, dass er wegen seiner vermeintlichen SS-Mitgliedschaft so spät entlassen worden war, stand er bei einer Betriebsversammlung auf. „Da musste ich mal ein paar Dinge zu meinem Lebensweg klar stellen“, erklärt Erwin Jöris.

Es war Wirtschaftswunderzeit, Zeit des Vergessens, die Frontstadt Berlin weit weg, irgendwann kam der sogenannte Wandel durch Annäherung. „Für Stasi, Hohenschönhausen oder Workuta interessierte sich hier keiner“, sagt er. Und selbst unter denen, die auf das Unrecht im Osten aufmerksam machen wollten, blieb er ein Spezialfall. Jöris ging zwar zu den Treffen der Opferverbände oder erzählte auf antikommunistischen Tagungen seine Erlebnisse. Aber man blieb auf Distanz. Der ehemalige Kommunist war suspekt.

Seine Geschichte störte die große Machtlosigkeitserzählung der Nachkriegsjahre mit ihren Ausflüchten, dem Gedruckse um politische Ahnungslosigkeit und den geschönten Familiengeschichten. Vom Widerstand wollte man nichts hören. Den kommunistischen verschwieg man.

Und im Osten? Seine einstigen Genossen wucherten nach den Moskauer Überlebensjahren mit dem Pfand ihrer Biografien: kommunistische Jugend, Illegalität, Konzentrationslager, Komintern-Schulung. Sie allein hatten Hitler besiegt. Es war die Hochzeit der Polit-Legenden. Dabei war derjenige, der Jöris immer wieder denunziert hatte, nun auserkoren zum Botschafter in Nordkorea. Ein anderer stieg zum entscheidenden Mann der Volkspolizei in Görlitz auf, verantwortlich für viele politische Verhaftungen. Ein Dritter baute die Staatssicherheit in Sachsen auf, nachdem er in der Krankenbaracke des KZ Buchenwald in eigenmächtiger Selektion für den Tod von 176 Mithäftlingen verantwortlich geworden war.

Erwin Jöris kommentierte dies in seiner Art: „’Hättste dich man gut gestellt mit der DDR, dann hättste heute einen hohen Posten’, hat mancher zu mir gesagt. Aber dann hätte ich ja alles runterschlucken müssen: den ganzen Verrat, die Verhaftungen, den Terror, die Lager. Wo wäre ich dann heute? Einer von diesen Verbrechern.“ Überlebt hat der heute Hundertjährige sie alle, in der kleinen Kölner „Rückkehrer“-Wohnung, die ihm 1956 zugewiesen worden war.

Andreas Petersen ist Historiker und veröffentlichte soeben die Biografie von Erwin Jöris Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren

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