Ist doch klar, wer gewinnt

Russland-Wahl Wählen oder nicht? Diese Frage beschäftigt viele junge Russen vor der Parlamentswahl am Sonntag. Denn eigentlich könne man sich diese Parodie von Demokratie doch sparen.

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Am Leninplatz, wo die Staatliche Universität Pskow liegt, haben sie einen großen Bildschirm aufgestellt. Der Kreml in Sichtweite – der Pskower Kreml. Gegen die Sonne kaum lesbar soll der Slogan "Unsere Wahl – gute Taten" Sympathien für den Kandidaten der Machtpartei Einiges Russland wecken. Am 18. September wird in Russland ein neues Parlament gewählt. In der Region Pskow stimmen die Wähler zusätzlich darüber ab, wer sie in der Stadtduma repräsentieren soll und wer ihr neuer Bürgermeister wird.

Eigentlich, sagt Maxim, könne man sich das alles sparen.

Andere in seinem Alter sind längst nach Sankt Petersburg oder Moskau geflüchtet, weil sie hier keine Perspektive sehen und rundherum nur Armut. Die Wirtschaftskrise vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter. Deshalb ziehen die Metropolen junge Leute an: Die Bildungschancen dort sind besser, es gibt Jobs, und es gibt die Aussicht auf ein höheres Gehalt.

So wachsen die russischen Großstädte, während es in den kleinen Orten leerer wird, auf dem Land sowieso. Zurück bleiben die Alten.

"Sie trinken zu viel, rauchen und gehen nicht mehr in die Kirche"

Die junge Generation in Russland sei heute durchaus regierungskritisch, misstraue aber auch der Opposition, sagt die Petersburger Soziologin Elena Omeltschenko. Aktuell erforscht sie mit ihrem Team patriotische Jugendbewegungen, die seit einigen Jahren vermehrt entstehen, sich offiziell meist als unabhängig bezeichnen, aber meist staatlich unterstützt oder sogar organisiert sind. Für die russische Jugend gewönnen moralische und ethische Werte an Bedeutung, sagt Omeltschenko.

Solche Werte propagiert zum Beispiel die Jugendbewegung Naschi. Sie wurde 2005 von der Präsidialverwaltung ins Leben gerufen, um einer "russischen orangenen Revolution" entgegenzuwirken. Die Anhänger nennen sich "städtische Sittenwächter". Auf YouTube findet man Videoclips ihrer Aktionen, die hunderttausendfach angeklickt werden.

Der 21-jährige Wladislaw aus Pskow, im blauen Kapuzenpulli mit der Aufschrift "Rossija", kann sich damit durchaus identifizieren: "Viele junge Leute in diesem Land verhalten sich unmoralisch. Sie trinken zu viel, rauchen und gehen nicht mehr in die Kirche", sagt er. Also will er den Parlamentskandidaten Sultan Chamsajew von der Partei Nüchternes Russland wählen, der unter anderem für den Kampf gegen Alkohol und Tabak wirbt, sich außerdem für mehr Sporteinrichtungen einsetzt. Wie viele Sympathisanten der patriotischen Jugendbewegungen findet auch Wladislaw die Annexion der Krim und das Vorgehen Russlands in Syrien grundsätzlich gut. Daran sei ja nichts falsch.

Ein Minierfolg für die Opposition

Am Amtsgericht Pskow wird heute der Fall Dmitri Permikow verhandelt, Kandidat und Mitglied der Oppositionspartei Jabloko. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft ist eine große wuchtige Frau, mit strengem Blick verliest sie die Anklage. Anwesend sind: Permikow, seine Frau, sein Verteidiger – und Aleksej Malow. Er ist Wahlbeobachter der unabhängigen Organisation Golos in der Region Pskow.

Malow ist hier, weil man Permikow "unberechtigtes Verteilen von Wahlkampfmaterial am Leninplatz" vorwirft. Der Angeklagte und sein Verteidiger beziehen Stellung und beantworten die kritischen Fragen der Richterin, zwei Stunden später verkündet sie das Urteil: Freispruch von allen Anklagepunkten, aus Mangel an Beweisen, und weil grobe Fehler im Protokoll der Polizei gefunden wurden. Alle sind sehr erleichtert, denn für kleine Parteien, vor allem wenn sie der Opposition angehören, "enden solche Verfahren oft weniger erfreulich", sagt Malow.

Eines ist für den Wahlbeobachter trotzdem klar: "Der Kreml stellt sicher, dass seine Partei Einiges Russland eine komfortable Mehrheit in der Duma bekommt."

Bei den letzten Dumawahlen 2011 hatten Tausende Menschen in russischen Städten gegen Wahlbetrug protestiert, viele junge Leute waren dabei, vor allem in Moskau und Sankt Petersburg. Auch weil die Jugend dort besser gebildet und vernetzt sei, sagt der Soziologe und Politikexperte Dmitri Gawra von der Staatlichen Universität Sankt Petersburg. Momentan sieht es für ihn aber eher so aus, als habe sich die Mehrheit der Russen von jeglichem sozialen und politischen Engagement verabschiedet. Eine Protestbewegung wie vor fünf Jahren scheint heute undenkbar.

Wählen oder nicht wählen – das ist die Frage, die viele junge Leute kurz vor den Dumawahlen beschäftigt. Sie wünschen sich Fortschritt und Wohlergehen für ihr Land. Warum sollten sie also nicht wählen gehen? Weil sie sich sonst mit der schlechten Parodie von Demokratie, die das autokratische Russland heute ist, einverstanden erklären. Viele bleiben da lieber zu Hause.

Maxim lehnt sich am Leninplatz lässig an sein Fahrrad und schaut ernst. Er wünscht sich eine bessere Zukunft und mehr Perspektiven für junge Leute. Hier. In Pskow. Die Leute sollen ins Theater kommen, die Schauspieler dasselbe Gehalt bekommen wie in Moskau, so lange bleibt er hier.

Wählen geht er am Sonntag nicht. Nächstes Mal vielleicht.

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Geschrieben von

Andreas Rossbach

Als freier Journalist schreibe ich aus Russland für russische und deutsche Medien über Politik, Kultur & andere Dinge, die mich interessieren.

Andreas Rossbach

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