Wir müssen die Demokratie stärken

Dialog. Einblicke in die Einstellung junger Russen und Türken zu individueller Freiheit, Staat und Gesellschaft.

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Der große Liberale Gerhart Baum – frei nach Jochen Bittner –, hat einmal einen Satz von geradezu universeller Wahrheit gesagt: "Der hinterhältigste Dämon gegen unsere Freiheit ist die Angst." Die konkrete Wahrheit des Jahres 2018 lautet, dass sich so viel Angst so schnell in unserer Welt wie lange nicht mehr und dass sich diese Angst verhält wie ein Schneeball: Je mehr Strecke sie zurücklegt, desto größer wird sie. Auf den ersten Blick scheint alles das Werk ein und desselben Despoten zu sein: Der autoritäre Machthaber, der starke Mann, der mit eiserner Hand herrscht. Der türkische Buchautor und Journalist Can Dündar nennt ihn in seinem Buch den "Herrscher der Angst". Autoritäre Machthaber wie Wladimir Putin oder Recep Erdoğan haben sich weit von liberal-demokratischen Werten entfernt. Kritische Beobachter im In- und Ausland sind wegen dem Verlust von liberalen Werten in Russland und in der Türkei besorgt. Das gilt auch für die Teilnehmer*innen des diesjährigen Türkisch-Russischen Dialog (#TRUSD), der in Istanbul, Silce stattfand. Dort haben jungen Türken und Russen ihr ganz enigenenes Freiheitsbild diskutiert.

In der Türkei ist Präsident Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) seit 2002 die Regierungspartei. Nach anfänglich einigen Liberalisierungreformen hat die Regierung des amtierenden Präsidenten in den letzten Jahren zunehmend politische Rechte und bürgerlicher Freiheiten missachtet. Besonders hart griff die türkische Regierung nach einem Putschversuch im Juli 2016 durch. Auf der Grundlage einer Notstandsermächtigung und vage formulierten Terrorismusgesetzen haben die Behörden mehr als 110.000 Angestellte im öffentlichen Dienst suspendiert oder entlassen. Zudem verhaftete die Regierung bis Ende 2016 mehr als 60.000 Menschen, darunter oppositionelle Politiker, regierungskritische Journalisten und Akademiker. “Die Türkei ist längst eine illiberale Demokratie”, sagt Israfil Özkan aus Ankara, der Menschenrechtsaktivist und Fellow der Freedom Research Association ist.

Die Macht in Russlands autoritären politischen System konzentriert sich in den Händen von einem Mann – Kremlchef Wladimir Putin. Anastasia Burakova, die als Juristin bei Open Russia, eine Nichtregierungsorganisation, die sich für Demokratie und Menschenrechte in Russland einsetzt, arbeitet, meint: “Mit einem loyalen Geheimdienst, einem unterwürfigen Justizsystem, einer staatlich kontrollierten Medienlandschaft und einem politischen System, in dem es nur einen Gewinner gibt: Putins Partei “Einiges Russland”, kontrolliert der Kreml das Land.” Die russische Opposition werde zudem unterdrückt und Wahlen werden manipuliert, um eine echte Opposition zu verhindern. Korruption ist außerdem ein massives landesweites Problem.

In Anbetracht der wachsenden „Türkei- und Russland-Verdrossenheit“ sowie einer zunehmend populistisch akzentuierten Auseinandersetzung mit den Entwicklungen in den beiden Ländern haben die Teilnehmer*innen von TRUSD die “transformative Kraft von Ideen” und das “Potenzial sozialen Wandels in autokratischen Strukturen diskutiert" erklärt Gulcin Sinav, Mitarbeiterin der Friedrich Naumann Stiftung für liberale Politik (FNF) in Istanbul.

Das es Diskussionsbedarf gibt, zeigt sich bereits bei der, zugegeben schwierigen, Definition des Begriffs. “Freiheit bedeutet für mich, dass du mit deiner Hautfarbe, deinem Geschlecht, deiner sexuellen Orientierung, deiner Herkunft, deiner Kultur du selbst sein kannst”, erklärt der Menschenrechtsaktivist Özkan. Und zwar “ohne dafür marginalisiert zu werden” und “ohne dafür als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden”. Elena Timofeeva, Aktivistin und Unterstützer des russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny assoziiert Freiheit damit “das man Grenzen der persönlichen Freiheit anderer Menschen nicht verletzen darf” und dass man “keine Angst davor haben muss seine Meinung zu äußern, ohne dafür gleich im Gefängnis zu landen.

Jeder definiert Freiheit anders. Das Problem der Definition von Freiheit ist Julius Freytag-Loringhoven, dem Leiter der FNF in Moskau Freytag-Loringhoven durchaus bewusst, für ihn steht der Aspekt der Selbstbestimmung im Vordergrund. „Egal in welcher Gesellschaft man auf diesem Planeten aufwächst, kennt man intuitiv den Unterschied zwischen frei und fremdbestimmt“, so der Leiter der Friedrich Naumann Stiftung in Moskau. Freytag-Loringhoven ist auch der Meinung, “dass die Gefühlslage einer Gesellschaft und ihre Haltung zu aktuellen Problemen zu erfassen, keine einfache Aufgabe ist”, und in Russland und der Türkei sei sie vielleicht sogar noch ein wenig komplizierter als anderswo. Das einzige, worin man sich vielleicht in beiden Länder einig ist, sei die negative Freiheit, also die Abwesenheit von Zwang, alles andere können man diskutieren.

Das vielfältige Programm des dreitägigen Events umfasste Speaker wie Sven Gerst, Secretary General von der International Federation of Liberal Youth (IFLRY), der über die Kraft von Ideen sprach, Mihat Celikphal, Professor an der Kadir Has Universität, der eine Studie zur Wahrnehmung von Freiheit in der Türkei und in Russland vorstellte und Egin Önder, Mitgründer von 140journos, einer unabhängigen Crowdsourcing-Nachrichtenagentur, die über Nachrichten innerhalb der Türkei berichtet. Zudem wurde viel Wert auf interaktive Gruppenarbeiten und Teambuilding gelegt und es sind Ideen für gemeinsame türkisch-russische Projekte von einem liberalen Dorf der Zukunft bis zu einer Kunstausstellung, die politische Werke türkischer und russischer Künstler zeigen soll, entstanden, die in naher Zukunft realisiert werden sollen.

Will man ein resümierendes Gesamtbild des dreitätigen Events zeichnen, so kann man feststellen, dass liberale Grundwerte, Werte in den Themenfeldern Demokratie, Menschenrechte, Toleranz, Marktwirtschaft und Rechtsstaat in einer für Viele sicher überraschenden Weise bei den anwesenden jungen Bürgern*innen der Türkei und Russlands Wurzeln geschlagen haben. Allerdings lassen die Antworten auch Zweifel daran aufkommen, in welchem Maße die formal bejahten und geschätzten Werte in der gesellschaftlichen Praxis der Bürger auch wirklich gelebt werden. Wenn deklamatorisch positiv besetzte Werte in konkreten Beispielen hinterfragt werden, offenbaren sich häufig vielfältige Widersprüche.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Rossbach

Als freier Journalist schreibe ich aus Russland für russische und deutsche Medien über Politik, Kultur & andere Dinge, die mich interessieren.

Andreas Rossbach

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