Draußen, in einer nicht sehr gastlichen Welt

Bühne 4.500 Holocaust-Überlebende wollten 1947 per Schiff nach Israel emigrieren. Sie mussten zurück ins Land der Täter. Die Gruppe Das Letzte Kleinod erzählt ihre Geschichte
Im April probten die Schauspieler in der Nähe von Haifa, wo heute ein Museum an die Fahrt der Exodus erinnert
Im April probten die Schauspieler in der Nähe von Haifa, wo heute ein Museum an die Fahrt der Exodus erinnert

Foto: Ingo Wagner: dpa

Es ist kalt Mitte Mai in Emden, als die Theatergruppe Das Letzte Kleinod ihre neue Inszenierung vorstellt. Viel Regen hatte es in den Wochen zuvor gegeben, ungemütlich bei den Proben, die, wie nun die Premiere auf dem Gelände einer alten Kaserne stattfanden.

Fürs Publikum steht immerhin ein Container mit Schlafsäcken bereit. Das Letzte Kleinod ist für solche Fälle gewappnet. Schließlich spielt die Truppe um Regisseur und Autor Jens-Erwin Siemssen fast ausschließlich draußen. Seit 1991 leitet der gebürtige Bremerhavener Das Letzte Kleinod, mit wechselnden Ensembles inszeniert er seine Stücke. Siemssen, Mitte Fünfzig, graues Strubbelhaar, bringt so leicht nichts aus der Ruhe. Wenn bei ihm doch mal eine Inszenierung drinnen stattfindet, darf's durchaus mal ein Kühlhaus sein. Bühnen, ganz normale Bühnen – die interessieren Siemssen nicht. Die Geschichten, die er inszeniert, sind schließlich keine Konversationsstücke oder tiefe Charakterstudien. Sie spielen draußen, in einer nicht immer sehr gastlichen Welt.

Das ist weniger dem Gedanken der Authentizität geschuldet als den Orten, die Siemssen mindestens so sehr interessieren wie die Geschichten, die dort hingehören oder zumindest ihren Anfang oder ihr Ende haben. Einmal enterte er mit Team und Publikum eine künstliche Insel in der Wesermündung, gebaut als Marinefestung, zwischen 1933 und 1934 ein Konzentrationslager. Hin kam man nur per Ruderboot oder, in einem begrenzten Zeitfenster, zu Fuß durch's Watt.

Unwirtliche Spielorte

Ganz so unzugänglich ist der Ort nicht, an dem Das Letzte Kleinod nun Exodus präsentierte. Die Karl-von-Müller-Kaserne in Emden war auch kein Konzentrationslager. Sie spielt allerdings ebenfalls eine makabere Rolle im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen: Im Winter von 1947 auf 1948 waren hier jüdische Holocaustüberlebende untergebracht, die eine wahre Odyssee hinter sich hatten. Sie waren im Sommer 1947 mit der „Exodus“, einem ehemaligen Vergnügungsdampfer, von Marseille nach Palästina aufgebrochen, das seit 1922 britisches Mandatsgebiet war. 4.500 Menschen transportierte das einmal für 400 Touristen ausgelegte Schiff.

Die Briten hatten eine Quote für jüdische Einwanderer festgelegt, um die ethnischen Konflikte im Mandatsgebiet einzudämmen. Der Strom jüdischer Zuwanderer überstieg die Quote allerdings bei weitem, weshalb Auffanglager vor allem in Palästina und auf Zypern eingerichtet wurden. Zugleich war die britische Armee bestrebt, die Einwanderer gar nicht erst auf palästinischen Boden gelangen zu lassen.

Schon früh begleiteten deshalb britische Kriegsschiffe die Fahrt der „Exodus“, kurz vor palästinensischen Hoheitsgewässern griffen sie an. „Es war Krieg“, beschreibt einer der Bootsinsassen von damals, dessen Erinnerungen in dem Theaterstück verarbeitet sind, die Situation. Mit allem, was sie hatten, wehrten sie sich, gegen die Übermacht mussten sich allerdings geschlagen geben. Die Briten verfrachteten sie auf drei Gefängnisschiffe, die sie zunächst Richtung Frankreich, dann weiter nach Deutschland brachten, in das Land der Täter, dem sie gerade glücklich entflohen waren, in dem sie ihre Angehörigen und Freunde verloren hatten. Dort überwinterten sie, zumindest die, die die Überfahrt überlebt hatten, ein Teil von ihnen in Emden, andere in Wilhelmshaven, einem weiteren Aufführungsort von „Exodus“.

Hollywood verfilmte den Stoff schon 1960, mit Paul Newman und Esther Ofarim, die damals noch Esther Reichstat hieß.

Zeitzeugen statt Action

Wo Hollywood allerdings mit viel Action von der Gründung des Staats Israel erzählt, interessieren Siemssen die „kleinen Leute“, wie er es ausdrückt. Sie waren es auch, die ihm ihre Geschichten erzählt haben. Zeitzeugen aus Emden und Wilhelmshaven berichteten von damals, auch in Israel führte er Interviews für sein Stück.

Die große Politik, sie findet sich natürlich auch in diesen Erzählungen wieder, die er zu einem gut einstündigen Stück montiert hat. Und gerade auf diese Weise macht der Theatermacher spürbar, wie brutal sich die große Politik im kleinen Alltag niederschlägt. Der sich wiederum in den Härten nicht erschöpft.

Geprobt wurde in Israel

Exodus erzählt nämlich auch, wie auf der Fahrt nach Palästina nicht nur Menschen starben, sondern auch Kinder geboren wurden, Paare zusammenfanden und manche Flüchtlinge die Überfahrt als aufregendes Abenteuer genossen – zumindest bis die britischen Schiffe angriffen und die Träume von der neuen Heimat im Gelobten Land vorerst zunichte machten.

Dank einer Förderung der Bundeskulturstiftung im Rahmen des Projekts „Unorte“, konnte Siemssen mit einem fünfköpfigen Ensemble und dem Produktionsteam im April dieses Jahres nach Israel reisen, um dort zu proben. Zwei Wochen lang campierte das Letzte Kleinod in einem ehemaligen Auffanglager in der Nähe von Haifa, nicht weit von dort entfernt also, wo die „Exodus“ einst hatte landen wollen, und genau dort, wo Tausende jüdische Flüchtlinge, die schon vorher nach Palästina gekommen waren, als illegale Einwanderer interniert waren. Das Lager ist heute eine Gedenkstätte, Stacheldrahtverhau, Wachtürme, ein verrostetes Schiffswrack und nachgebildete Wachsoldaten erinnern heute daran, was hier einst geschah, täglich besuchen Schulklassen aus dem ganzen Land die Einrichtung.

Hier zu proben, abgeschnitten von der Außenwelt, in Hörweite ein Marinestützpunkt, in den Dünen die alten Wachtürme, das hinterlässt bei den Schauspielerinnen und Schauspieler Eindruck. Wichtig ist Siemssen auch, dass sein Ensemble, junge Schauspieler aus den Niederlanden, Deutschland und Israel, zumindest teilweise auch die Zeitzeugen kennenlernt. Auch diese Begegnungen bleiben nicht ohne Folgen, eine der Schauspielerinnen erzählt, wie sie nach dem Gespräch mit einer Zeitzeugin förmlich zusammenklappte – dabei sei das Gespräch so offen und positiv gewesen, ihre Gesprächspartnerin eine freundliche ältere Dame. Die Wucht der Geschichte war schlicht zu viel.

Diese emotionale Intensität kommt dem fertigen Stück durchaus zugute. Die wechselnden Stimmungen, zwischen Euphorie, Entsetzen, Niedergeschlagenheit, Rebellion, schließlich: Erleichterung, sie sind in Siemssens Inszenierung deutlich spürbar, was ein kleines Wunder ist angesichts der schlichten, ja regelrecht primitiven Mittel, die er für sein Theater benutzt. Requisiten? Eigentlich nur das, was vor Ort so herumliegt, in diesem Fall ausgehängte Fensterrahmen, die mal zum Barrikadenbau verwandt werden, mal als Tragbahre. Das Geknatter von Maschinengewehren, die Explosionen die die „Exodus“ erschüttern: die Schauspieler erzeugen sämtliche Geräusche mit ihren Händen und dem, was der alte Bau so hergibt, der nicht zuletzt das ist, was hier so stark wirkt, mit wenigen Lichtakzenten ausgeleuchtet, nachdem die letzten Strahlen der Abendsonne, die sich in geborstenen Fensterscheiben brachen, verblasst sind.

Gesänge aus der Tiefe

Und dann ist da noch die Musik, komponiert von dem jungen israelischen Komponisten Shaul Bustan, gesungen von einem vor Ort rekrutierten Chor, meist aus den Tiefen des Kasernengebäudes heraus erklingend, was den reibungsreichen,, schwebenden Akkorden, unterlegt mit Bustans düster dröhnenden Kontrabass-Tönen, gespenstische Intensität verleiht. Kein Ort das hier, an dem man dauerhaft verweilen mag, voll der Geister der Vergangenheit – oder ist es die Welt, die bisweilen nun mal so ungastlich ist?

Der Schluss von Exodus, da sind sie alle dann endlich doch glücklich in Israel angekommen, reicht bis weit in die Gegenwart hinein. Auch das ein nachhaltiger Eindruck, den das Ensemble aus Israel mitgebracht hat: den von einem hochmilitarisierten Land im permanenten Ausnahmezustand. Exodus bezieht in diesem Sinne ganz bewusst nicht Partei. Aber es erinnert umso eindringlicher daran, dass Vergangenheit so lange nicht bewältigt werden kann, wie die Konflikte, die aus ihr hervorgingen, nicht gelöst sind.

Uraufführung: Mittwoch, 14. Mai, 21 Uhr, Karl-von-Müller-Kaserne, Emden. Weitere Aufführungen: 22.-24. Mai, 21 Uhr, Admiral-Armin-Zimmermann-Kaserne, Wilhelmshaven, 29. Mai bis 4. Juni, 21 Uhr, ehemalige Carl-Schurz-Kaserne, Bremerhaven; Weitere Infromationen unter das-letzte-kleinod.de

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