Von Würzburg her kommt der Sturm, nimmt Anlauf über den Kesselrand und beschleunigt ins Steinachtal hinein. In Untersteinach richtet er die schlimmste Verwüstung an. Wenn Heinrich Thaler heute über den Sturm spricht, fünf Monate und zahllose Interviews später, hört sich das an wie die Erinnerung an einen alten Bekannten. „In Mönchsambach hat er dann aufgegeben. Beziehungsweise: sie, die Fabienne. Den Namen kann hier heute jeder aussprechen, auch wenn man kein Französisch an der Schule hatte.“ Thaler lacht, aber damals, am Abend des 23. September, ist ihm sicher nicht nach Lachen zumute gewesen.
Der Bürgermeister der Marktgemeinde Burgwindheim in Oberfranken steht im zweiten Stock seines Wohnhauses. Der Hof gehört der Familie
er Familie in fünfter Generation. Der Blick aus dem Fenster der kleinen Wohnküche unter dem Dach geht Richtung Westen, auf fränkische Felder und Wälder. Als Fabienne mit Anlauf über den Kessel kommt, zeitweise mit einer Geschwindigkeit von 150 Kilometern pro Stunde, zielt sie präzise auf diese Küche. Und auf alles, was zu diesem Teil des Gebäudes gehört. Thaler schaut nach unten auf die niedriger gebauten Scheunen. Lose Ziegel, blanke Balken: die eine wird noch immer restauriert. Und die andere muss er ganz aufgeben, ein Neubau kommt günstiger als die Reparatur. „Wir waren an dem Tag zwei Etagen tiefer, wo meine Mutter wohnt. Wären wir zu dem Zeitpunkt hier gewesen, wo wir uns am Sonntag normalerweise treffen, hätten wir keine Chance gehabt. Die Ziegel sind hier reingeflogen wie Raketen.“Heinrich Thaler, gelernter Schreiner und Bauzeichner, ist seit 2002 erster Bürgermeister von Burgwindheim, ein Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung. Das Amt bedeutet Arbeit, Thaler ist wichtig, dass die Leute das verstehen. Dass es nicht um Repräsentation geht, um Show, wie man sich das bei den Bürgermeistern in den Städten so vorstellt. Er besuche jeden Tag den Bauhof, die Baustellen im Gemeindegebiet. Und packt mit an. „Ich setze mich in der Kneipe nicht zu den VIPs, sondern ins letzte Eck, wo ich früher auch gesessen habe.“Der Ort galt als sicherWie sein Bürgermeister sitzt auch Burgwindheim ein bisschen im Eck, im südwestlichen Zipfel des Landkreises Bamberg. Nach dem Besuch von Fabienne im Herbst hielten regionale und überregionale Medien Thaler plötzlich ihre Fernseh- und Fotokameras ins Gesicht. Der Bürgermeister vom Ortsrand sollte jetzt nicht nur Rede und Antwort über den Sturmabend stehen – wie er Fabienne erlebt hat, oder warum die wenigsten der rund 30 betroffenen Häuser gegen Sturmschäden versichert waren. Thaler musste auch eine Haltung gegenüber dem Vorsitzenden seiner Partei entwickeln, Markus Söder.Auf einer Wahlkampfveranstaltung in Burgwindheim hatte der Thaler den Söder nämlich direkt auf die Krisenlage angesprochen. Der Ministerpräsident antwortete spontan mit zwei seither häufig zitierten Worten: „Wir helfen.“ Auf diese Hilfe warten die Untersteinacher bis heute. Rund 140 Menschen leben in dem Ort, von der Kapelle aus zweigt eine Sackgasse ab zum Thaler-Hof. Rechter Hand dominiert das kühl strotzende Firmengebäude des Kunststoffverarbeiters Stettler. Fabienne, dieser seltene Downburst-Wind, zerstörte bei ihrer Rotation in den Ort punktuell, nicht flächendeckend. Als säße da jemand an einem Joystick. Die Glasfassade von Stettler: kein Kratzer. Zwei Lagerhallen des Sägewerks: platt. Die Gärtnerei musste ihren Betrieb wegen der Schäden an Gewächshäusern aufgeben.Der Ort galt als sturmsicher. Klar, es habe eine Sturmwarnung gegeben. Die hat man in Untersteinach aufgenommen wie jede andere Sturmwarnung auch: Sie wurde ignoriert. Kurz bevor der Fallwind die Scheune abräumt, das Hausdach anhebt und wieder fallenlässt, spielen die beiden Söhne noch im Hof. Dann geht für zwei lange Minuten die Welt unter. Ein dunkler Sommerabendhimmel, eingetrübt von Ziegeln, Kohlen, Brettern, Eternitplatten, Photovoltaikmodulen. „Die Nachbarn suchen ihre Bank noch heute.“Danach herrscht Ruhe. Die Untersteinacher wagen sich langsam wieder hinaus auf die Straße. Überall liegt Schutt, an den Wänden klebt eine Schmutzschicht aus Stroh, Laub und Erde. Treffpunkt ist die Kapelle. Es gibt nicht viel zu sagen jetzt. „Wir haben alle bloß geschaut. Sprachlos. Wie versteinert. Wir konnten nicht sagen, das wird schon wieder. Da ging gar nichts. Da war sogar ich sprachlos, obwohl ich dachte, mich kann nichts erschüttern.“ Das Wichtigste ist jetzt, festzustellen, ob alle noch am Leben sind. Wo niemand öffnet, muss die Feuerwehr die Tür aufbrechen. Aber wie durch ein Wunder, das wiederholt Thaler immer wieder, wie durch ein Wunder ist in Untersteinach niemand auch nur verletzt worden. Im unweit entfernten Ebrach erschlug ein umfallender Baum eine Frau. In Stadelschwarzach nahm Fabienne die Spitze vom Kirchturm. In den umgebenden Wäldern sind die getroffenen Bäume auf zwei Metern Höhe wie abgeschnitten.Placeholder infobox-1Nachdem auf Markus Söders forsches Versprechen keine Überweisungen folgten, war immer wieder zu lesen gewesen, der Bürgermeister von Burgwindheim sei enttäuscht. Thaler regte einen eigenen Hilfsfonds für extreme Wetterereignisse an.Mittlerweile äußert er sich vorsichtiger, verständnisvoller. Er wisse ja selber gut genug, wie das ist, mit der Bürokratie in Deutschland. Und Fabienne hat in Untersteinach keine Katastrophe angerichtet, anders als beispielsweise das Hochwasser 2016 in Simbach am Inn. „Gott sei Dank“, sagt der Bürgermeister. Ein Katastrophenfall wird erst bei flächendeckenden Schäden ausgerufen. In einem Nicht-Katastrophenfall Geld vom Staat zu kassieren, damit würde die Regierung einen Präzedenzfall schaffen: Schnelle, unkomplizierte Hilfe – das geht nicht, das würde ja Begehrlichkeiten in anderen Gemeinden wecken. Wo soll das Geld herkommen?Der Ministerpräsident habe sich das also nochmal überlegt und den Fall dann weiter delegiert: Erstmal ans Finanzministerium, weiter ans Landwirtschaftsministerium und dann an das Amt für ländliche Entwicklung Oberfranken. Das Amt prüft nun, ob die Untersteinacher über die Dorferneuerung einzelne Bauarbeiten in Rechnung stellen lassen können. Eine Sprecherin der Staatskanzlei in München teilt auf Anfrage mit: „Die Staatsregierung hält Wort.“ Die Dorferneuerungsrichtlinien sind der Schlüssel, um an Privatförderung zu gelangen. Details könnten jedoch erst nach Beschluss des Doppelhaushalts 2019/2020 vereinbart werden.Fortziehen?„All diese Prozesse kosten Zeit“, sagt Thaler. „Ich kenne das ja als Bürgermeister. Aber diese Zeit haben wir nicht. Sie sehen das Gerüst beim Nachbarn. Die Menschen arbeiten weiter, weiter, weiter. Und versuchen, ihre Sachen zumindest wieder dicht zu machen. Wenn es ins Haus regnet, können die Leute nicht drauf warten, dass am Tag X irgendwann etwas kommt.“Ist es möglicherweise vorschnell, Fabienne auf den Klimawandel zu schieben? Aber es passt auch so gut. Im späten Februar liegt längst kein Schnee mehr im Steigerwald und die Sonne scheint auf Untersteinach, während seine Bewohner weiter seine Wunden pflegen. Was gar nicht so einfach ist. Denn nicht nur die Staatsregierung lässt die Leute damit bislang allein, auch die fränkischen Handwerksbetriebe stehen nicht in jedem Fall unmittelbar zur Verfügung. Heute morgen, sagt Heinrich Thaler, sei eigentlich ein Termin mit einem Zimmermann vereinbart gewesen. Der tauchte nie auf und ging auch nicht ans Telefon. Das sei keine Ausnahme: „Die meisten kommen nicht. Die schauen auf die Pläne, sehen, ah, innerorts, wollen wir nicht.“ Wer jetzt akute Schäden zu beheben hat, leide darunter, dass es der Baubranche so gut gehe, dass sich die Betriebe die Rosinen herauspicken können. Thaler ist froh, als gelernter Scheiner, vieles selbst leisten zu können. Die Schäden an seinem Hof allein schätzt er auf eine halbe Million Euro – wenn er von Firmen, die ja eh nicht zur Verfügung stehen, alles wieder aufbauen lassen würde, wie es einmal war.Staatsunabhängige Gelder gibt es mittlerweile in einem Spendentopf. Die ortsansässige Firma zahlte einen sechsstelligen Betrag ein, zahlreiche Privatpersonen kleinere Beträge. Bürgermeister Heinrich Thaler wird sich als Betroffener an der Verteilungsentscheidung nicht beteiligen. Er hat eh genug zu tun. Einmal pro Woche Gemeindeversammlung, E-Mails beantworten, Reporter treffen, Dach decken, Waldschäden abräumen. Bis Ende 2020 will er mit den Arbeiten am Hof fertig sein.Nachdem zunächst unklar war, ob sie nicht besser fortziehen sollten, wissen die Thalers heute: Sie bleiben hier. Womöglich sogar in der sechsten Generation. Auch wenn es nicht mehr werden wird, wie es vorher war: „Das hier haben Generationen Jahr für Jahr aufgebaut, mein Vater eine Halle, mein Opa eine Halle, mein Uropa eine Halle... Das ist alles so gewachsen. Ich habe es erhalten, dicht gemacht, die Dächer schön gedeckt. Und dann kommt so ein Sturm ohne Abbruchgenehmigung und räumt alles weg, innerhalb von zehn Sekunden“, sagt Heinrich Thaler, und macht eine Handbewegung, um noch einmal zu verdeutlichen, wie schnell das ging „dann war alles weg. Buff!“Placeholder authorbio-1
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