Es ist fast schon eine Binsenweisheit: Wer eine historisch orientierte Ausstellung kuratiert, will wohl auch die Parallelen zur Gegenwart zeigen, offenlegen, was uns das Gestern übers Heute verrät, und Aha-Effekte erzeugen mit dem „Ach, kuck, wie bei uns“. Es ist mit Sicherheit der häufigere Fall, dass der*die Kurator*in sich auf die Suche nach diesen Querverweisen begibt. Und nicht wie Daniel Hess, Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums (GNM) in Nürnberg, im globalen Schwung einer Pandemie von diesen überholt wird.
Hess trägt seit sieben Jahren eine Ausstellung in seinem Kopf spazieren, die ganz zentral von einer Lungenkrankheit handelt. Seit gut einem Monat steht diese Ausstellung, ist aufgebaut und kann doch nicht angeschaut werden, wegen einer Lungenkrankheit. Europa auf Kur beleuchtet den Mythos von Davos, der höchstgelegenen Stadt der Welt, Stadt des Wintersports und der Kunst, Stadt Kirchners und Manns – die all das nicht geworden wäre, hätte man hier nicht versucht, die Tuberkulosekranken von ihrem Leiden zu befreien.
Hess’ Ausstellung erklärt einen Ort mit heute knapp 11.000 Einwohner*innen zum Brennglas europäischer Kultur und zum Kristallisationspunkt der Moderne: Davos sei seiner Zeit voraus gewesen, Anfang des 20. Jahrhunderts schon international und im besten Sinne europäisch. Und mit einer erstaunlichen Bedeutung in nicht nur einem Daseinsbereich, sondern medizingeschichtlich wie sportgeschichtlich wie kunst- und literaturhistorisch. Und deswegen natürlich auch: politisch.
Kirchners Pistole
Am Anfang der Ausstellung steht daher der fotografische Blick in die vormondäne Zeit. 1870, Davos ist ein Bergbauerndorf. Die Geschichte von Davos beginnt eigentlich 1853 mit der Ankunft des Arztes Alexander Spengler, der die positiven Effekte der berühmten Bergluft für tuberkulöse Patienten entdeckte. Sie endet, im Museum zumindest, mit einem Knall: Das GNM stellt auch die Pistole aus, mit der sich Ernst Ludwig Kirchner 1938 ins Herz schoss.
Auch wenn man kritisieren könnte, dass mit diesem Schlusspunkt die tatsächliche Gegenwart einer auf die Parallelsetzung ausgerichteten Ausstellung ausgespart wird: Es ist ein im besten Sinne effektvolles Ende. Die Pistole, fast versteckt in einer Ecke, die, eingerahmt von schwarzen Wänden, als Sackgasse erscheint. Der Künstler war 1917 aus Berlin nach Davos gezogen, hatte dort ein Paradies vorgefunden. Seine Bilder aus dieser Zeit erzählen nicht von Krankheit, sie überhöhen auf fast naive Art die Schönheit der Landschaft, des bäuerlichen Lebens. Und dennoch neigt Kirchner zunehmend zu Alkohol und Drogen, während draußen, vor den Gestaden der „Friedensinsel“ Schweiz, der Erste Weltkrieg zu Ende geht und ein zweiter heraufzieht und die Nazis seine Kunst zur „entarteten“ erklären.
45 Arbeiten Kirchners zeigt das Germanische Nationalmuseum. Er ist der am prominentesten präsentierte unter den Davoser Prominenten. Obwohl er, in Distanz zu den Sanatorien lebend, in gewisser Weise ein Draufschauender blieb. Besonders eindrücklich wird das, wo Kirchners Triptychon Alpleben (1918/19) neben die Bilder von Philipp Bauknecht gestellt wird, einem expressionistischen Kollegen ohne vergleichbaren Nachruhm. Was bei Kirchner verheißungsvoll von der utopischen Urtümlichkeit erzählt, wirkt auf Bauknechts fiebergelben Bildern fast bedrohlich: Beim Älplerkirchweihtanz (1922) reiben garstige Bauern ihre Fratzen aneinander. Bauknecht war nicht freiwillig, sondern der Tuberkulose wegen nach Davos gezogen. Seine Bilder durchziehen die Ausstellung wie ein zynischer Kommentar.
Denn freilich, das macht den Ort so spannend, kann nichts unbelastet sein, wo der Boom auf todbringender Seuche beruht. Man lernt: Davos verstand es früh, sich diesem Image der Seuchenstadt zu entziehen. Der Davoser Liegestuhl ist kein Totenbett, sondern Designobjekt, dem Thomas Mann in seinem Davos-Roman, dem Zauberberg, liebevoll huldigt. Der Stuhl ist nicht eigentlich eine Davoser Erfindung, sondern stammt aus dem Taunus, die Namensgebung ist kluges Marketing. Mit dem Davoser Schlitten, ebenfalls ausgestellt, wiederholt sich das noch einmal.
Man entdeckt ihn in direkter Nachbarschaft zu Kirchners Webarbeiten, Hommagen an die bäuerliche Volkskunst. Hier findet der Übergang statt von der Kunst- und Kultur- zur Sportgeschichte. Wobei eben, wichtig, keines dieser Kapitel isoliert funktioniert. Kirchner zeichnete kontrastreich-schwungvolle Eishockeyspieler. Der britische Literaturkritiker John Addington Symonds leitete den ersten Schlittenverein der Schweiz. Der Grafiker Walter Koch gestaltete die Plakate für Wettbewerbe am ersten Skilift der Schweiz. Und Arthur Conan Doyle, Erfinder des Sherlock Holmes, 1893 in Begleitung seiner tuberkulosekranken Frau nach Davos gekommen, brauchte einfach Beschäftigung. So heißt es. Er schrieb Reportagen über Skitouren und lockte damit weitere britische Touristen. In den diversen „Zauberbergen“ der Literaturgeschichte tauchen die neuen Formen der Ertüchtigung natürlich sowieso auf.
Wintersport und Krankheit, auch hier drängt sich eine Parallele auf. Ob die Museen in 100 Jahren dann Ischgl ins Zentrum ihrer Forschung rücken werden, scheint irgendwie fraglich. Aber das ist vielleicht die Skepsis der Gegenwart. Damals jedenfalls findet der Skitourismus weniger trotz als wegen der besagten Lungenerkrankung statt. Davos zieht Wohlhabende an, erst Kranke, dann Gesunde. Die Kranken tragen keine Masken vor Mund und Nase, sondern Röntgenbilder und die Spuckflasche in der Westentasche. Beides ebenfalls ausführlich im Zauberberg beschrieben. Artefakte der gesellschaftlichen Situation Krankheit – auch das schärft den Blick auf die Jetztzeit und darauf, was in ihr erfunden, verbreitet und schnell normal wird.
Cassirer vs. Heidegger
Von Politik ist in diesen Bereichen der Ausstellung wenig zu spüren oder zu lesen. Kirchner flieht vor Lärm und Schmutz der pulsierenden Großstadt Berlin. Er flieht aber auch vor dem Krieg, von dem Davos beide Male verschont bleibt. Das Weltgeschehen ist hier ein Hintergrundrauschen, aus dem die Sanatorien Profit zu schlagen verstehen: Die Schweizer vereinbaren mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien, kranke und schwer verwundete Kriegsgefangene in die heilenden Hallen der Sanatorien aufzunehmen. Auf Kosten der Heimatstaaten. Für Davos eine rettende Überbrückungshilfe in einer Zeit ohne Fremdenverkehr.
Es ist kein Wunder, dass früheste Antikriegsliteratur gerade hier entstand: Andreas Latzko verarbeitete in Davos seine Erfahrungen an der Isonzofront in dem Buch Menschen im Krieg. Nach dem Krieg eignet sich Davos als Ort mit einer gewissen Intelligenzia auf neutralem Boden dafür, von hier aus die Völkerverständigung in Angriff zu nehmen. Die hier gegründete Deutsch-Französische Gesellschaft organisiert die Davoser Hochschulkurse, an denen auch die einheimische Bevölkerung teilnehmen soll. Hier hält Albert Einstein physikalische Einführungsvorträge und spielt am Abend im Streichtrio mit. Die Begebenheit wurde von dem Maler Emmerich Haas festgehalten.
Es gehört zur Dramaturgie des Ortes, die die Ausstellung so behände verdeutlicht, dass diese Utopie einen schweren Schatten trägt. Die schwarze Wand listet die Namen berühmter Teilnehmer der Hochschulkurse auf. Hier steht Martin Heidegger neben Ernst Cassirer, zwei Philosophen, die 1929 im Hotel Belvédère die rhetorischen Klingen kreuzten. Vier Jahre später vertreiben die Nazis den Juden Cassirer. Und Martin Heidegger ist Mitglied ihrer Partei. Den ideengeschichtlichen Komplex, der hier aufscheint, kann die Ausstellung Europa auf Kur nicht mehr umfassend aufarbeiten, nur anreißen als Teil der Geschichte eines Ortes, der trotz Balkon-Position nie nicht betroffen war.
Am Observatorium der Stadt findet 1925 der erste Klimatologische Kongress statt, Grundlagen für die heutige Klimaforschung werden gelegt. Später erlangt ein Mitarbeiter desselben Observatoriums Berühmtheit als Hakenkreuz-Flaggen hissender, Aufmärsche organisierender Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz: Wilhelm Gustloff. Auch ihn hat es der Tuberkulose wegen nach Davos verschlagen.
Gegenüber einem UV-Spektrometer, durch das Gustloff möglicherweise geblickt hat, steht ein Zitat aus Thomas Manns Zauberberg an der Wand. „Man glaubt an das Kommen des Krieges, wenn man ihn nicht hinlänglich verabscheut.“ An der Decke, erschütternd, die schwarz-weiß-rote Flagge des deutschen Konsulats. Die letzten Meter der Ausstellung arbeiten sehr bewusst mit dieser Erschütterung. Eine winzige Kinderuniform zum patriotischen Aufmarschieren, ein Bild von Gefechtsübungen, die Kirchner direkt hinter seinem Wohnhaus fotografierte, ein Porträt von David Frankfurter, der Gustloff 1936 erschoss. Zwei Jahre später nur richtet der zentrale Künstler dieser Ausstellung seine Waffe gegen sich selbst. Man verlässt den Raum mit diesem Wummern im Magen, dem Nachhall von 150 Jahren Davos.
Info
Europa auf Kur: Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, bis 3. Oktober 2021. Aufgrund der hohen Inzidenzwerte in Nürnberg vorübergehend wieder geschlossen.
Aktuelle Informationen unter gnm.de
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