Dalias doppelte Reise

Ein Interview // Über die Türkei, den Balkan, Magdeburg kam sie vor einem Jahr aus Syrien nach Berlin. Dort lebt und studiert sie seither – und reflektiert ihr Verhältnis zu Israel. //

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Hallo Dalia. Wie geht es dir?

Danke, sehr gut. Ich bin glücklich in Deutschland zu sein. Hier habe ich die Chance, Ruhe und Gelassenheit, meine Neugierde zu befriedigen.

Ich möchte mit dir über deine veränderte Perspektive zu Israel sprechen. Wo sollen wir anfangen?

Am besten in meiner Schulzeit. Da begann ich mit ungefähr 13 Jahren die Romane palästinensischer Autoren zu lesen – zum Beispiel Ghassan Kanafanis „Männer in der Sonne“ und „Rückkehr nach Haifa“ oder die Gedichtbände von Mahmoud Derwisch. Und ich sah die Nachrichten arabischer Kanäle, welche von der Unterdrückung Palästinas und der Boshaftigkeit Israels erzählten. Im Geschichtsunterricht erklärte man uns, dass die Juden wilde Tiere wären, viel Geld und die Kontrolle über die Welt hätten. Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau an die Worte, aber dass die Juden unsere Feinde sind, das habe ich in der Schule gelernt. In den Schulbüchern steht: Die Juden sind gehässig und unser einziger Feind und natürlich die USA, denn die schützen die Juden.

Hat die Ablehnung des Judentums etwas mit dem Islam zu tun?

Im Koran steht die Kritik an den Juden nur indirekt. Ich glaube inzwischen, es ist mehr Politik. Die Diktatoren brauchen einen äußeren Feind, also Israel, damit man vergisst, dass sie Diktatoren sind. Assad wollte von seinen eigenen Fehlern ablenken.

Gab es in Syrien niemanden, der das anders sah?

Die meisten älteren Menschen waren sehr aggressiv und einseitig. Sie verhielten sich wie Steine, wollten nur eine Sicht auf die Dinge hören. Die jüngeren Leute waren liberaler, weil sie zu lesen begannen.

Auch du hast viel gelesen. War das der Schlüssel zu deinem Blickwechsel?

Mein Wandel passierte, weil ich beide Seiten kennengelernt habe. Nach meiner Flucht lebte ich zunächst sieben Monate bei einer deutschen Familie, die sehr gebildet war und ich habe zu Beginn gesagt, dass ich die Juden hasse und Hitler liebe – wie peinlich … weil ich nicht wusste, dass die Deutschen Hitler hassen. Und ich habe meine Gastmutter sogar gefragt, warum Hitler nicht alle Juden umgebracht hat. Daraufhin bekam ich zur Antwort: Die Juden sind auch Menschen, wie wir. Aber in meinem Herzen habe ich das damals nicht geglaubt.

Daraufhin hat mir die Gastmutter empfohlen, einige Filme über den Holocaust anzusehen, also Schindlers Liste, der Pianist, der Junge im gestreiften Pyjama und so. Danach hat sich meine Einstellung ein bisschen geändert, aber immer noch nicht ganz.

Welchen Impuls hat es noch gebraucht?

Dann kam MAUS – Die Geschichte eines Überlebenden, der Comic von Art Spiegelmann. Kennst du dieses Buch?

Ich habe davon gehört. Wie bist du zu dem Buch oder das Buch zu dir gekommen?

Eine jüdische Freundin meiner Gastmutter hat mir das Angebot gemacht, mit ihr über Silvester zu einer Veranstaltung nach Auschwitz zu fahren und ich habe „Ja“ gesagt. Und weil mein Deutsch inzwischen schon besser war – vorher haben wir uns auf Englisch unterhalten – habe ich für die Zugfahrt MAUS geschenkt bekommen. Aber nach Auschwitz ging es dann doch nicht, weil ich mit meinem Flüchtlingsstatus damals nicht ins Ausland durfte.

Wie ging es weiter?

Ich hatte keine Ahnung, was in dem Buch passiert – bis Seite 20 war alles okay, bis ich den Stil erfasst hatte, immer noch viele Wörter mit meinem Handy-Wörterbuch nachschlagend. Und irgendwann hat es mich ergriffen. Wenn ich lese oder einen Film sehe, dass lese ich tief und intensiv. Da habe ich gemerkt, dass sie wirklich Menschen wie wir sind, ich meine die Juden. Sie sind auch schlau und ich bin immer traurig, wenn schlaue Leute keine Chance haben. Und dann kam Düsseldorf, ein Weihnachtsbesuch bei den Eltern meiner Mitbewohnerin aus der WG, in die ich inzwischen gezogen war. Da schlug ich vor ins Jüdische Museum zu gehen. Dort habe ich dann noch mehr verstanden – alles auf Deutsch, auch das Gedenkbuch im Keller. In dem standen die Namen, Alter und Todesarten der Opfer und bei fast allen der Todesort: Auschwitz … Da habe ich Fotos gemacht, weil das so berührend war.

Hast du mit anderen Menschen über deine Erfahrungen und Gefühle gesprochen?

Ja, mit meinen Mitbewohnern. Da war auch eine Freundin, die schon einmal in Israel gewesen ist und mir erzählt hat, dass Israelis und Palästinenser in vielen Teilen des Landes Freunde sind. Ich war fassungslos. Wir haben in Syrien die ganze Zeit in einer Lüge gelebt.

Nochmal zurück zum MAUS-Comic. An welche Szenen erinnerst du dich besonders?

Eine Mutter hat sich und ihre drei Kinder umgebracht, um sie vor den Nazis zu schützen. Das fand ich sehr traurig. Und die Darstellung der Zugfahrten, wo Menschen eine Woche ohne Essen, Trinken, Schlafplatz und Toilette bleiben mussten, hat mich sehr bewegt. Sie haben nur auf den Tod gewartet.

Du sprichst von Trauer, die diese Geschichte von der Geschichte in dir ausgelöst hat. Macht sie dich auch wütend? Es gab ja nicht nur Opfer, sondern auch Täter.

Stimmt. Seit einem Monat bin ich nicht mehr so glücklich wie am Anfang. Eher sauer darauf in Deutschland zu leben. Obwohl dieses Wort „sauer“ eigentlich nicht richtig passt. Ich kann das alles nicht verstehen. Vor 60 Jahren haben die Deutschen sechs Millionen Juden getötet und jetzt haben sie eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Wie passt das zusammen? Irgendwie fühle ich mich seit einiger Zeit wie eine Jüdin. Verstehst du?

Ich glaube schon. Denkst du, dass die Fragezeichen verschwinden werden?

Das wäre schon gut. Ich versuche im Moment nicht daran zu denken und nicht zu verallgemeinern. Die Nazis sind ja schon lange gestorben – hoffentlich?!

Würdest du sagen, dass die Veränderung deiner Perspektive auf die Juden eine Privatsache ist?

Definitiv nicht. Das geht uns alle etwas an. Deshalb will ich viele Bücher ins Arabische übersetzen, damit meine Leute beide Seiten sehen können. Die Juden sind auch Menschen und für das Leben kann man kämpfen. Muss man!

Du hast jetzt schon gesagt, welches Medium du für dich wählst, gibt es andere?

Leider bin ich zu schwach für eine sprachliche Auseinandersetzung und ich finde auch Filme nicht so gut. Da werden immer so viele Übertreibungen gezeigt. Aber ich kann Bücher übersetzen. Literatur ist authentisch und hilft bei der Meinungsbildung.

Aber sie müssen auch gelesen werden.

Stimmt. Menschen, die nicht lesen, bleiben ahnungslos!

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