„Wo in jedem Winkel eine Überraschung, etwas Absurdes oder beides wartet, wollte ich natürlich einen Road Trip machen; das Land in seinem eigenen Rhythmus erfahren und dabei die Zeit vergessen. Der Wüstenbundesstaat Rajasthan mit seinen Burgen und heiligen Städten drängte sich auf.“ Während einer Taxifahrt durch Rajasthan lernt Autor Timm Neu das wohl charakteristischste Wort Indiens kennen: „kal“ – welches gestern und morgen zugleich bedeutet – und sich wie eine Ohrfeige auf seine genormte Zeitwahrnehmung anfühlt.
Mit guter Beobachtung und meist treffenden Bildern geht es in Rikschas durch Pune, in Zügen nach Tamil Nadu, zu Fuß zu dicken Shopping Malls, im Taxi durch Bangalores Nachtleben, im Billigflieger ins gestrige Goa oder im Überlandbus vom Strand in Gokarna „zurück in den Lärm der Welt“.
Aus dieser Gemengelage berichtet der Autor tapfer mit seinem europäischen Auge. Doch obwohl er die Dinge damit nicht selten irritiert und bisweilen naiv betrachtet, wird es niemals grenzwertig oder gar überheblich, sondern meistens komisch. Zum Beispiel im Bericht über Stromausfälle, die in Indien mehrere Stunden andauern können und die Neu mit der süffisanten Bemerkung kommentiert: Es sei dadurch gar nicht aufgefallen, dass das Wasser nicht warm wurde, denn wer dusche schon gern im Dunkeln.
Crash Boom Bangalore ist eine Sammlung gelebter Erfahrungen eines jungen Mannes, der 2011 bei einer IT-Firma in Bangalore arbeitete und damit aus dem Herzen der indischen Mittelschicht berichtet, in der Moral und Weltbilder rumpeln, heucheln, schmelzen – häufig der Realität enthoben. Die Dissonanzen zwischen Tradition und Moderne, Spiritualität und Materialismus, Freiheit und Kaste, Wachstum und Kontinuität sind deutlich hörbar. Crash Boom Bangalore ist eine Sammlung, die dem Leser etwas über die polymorphe Identität Indiens im 21. Jahrhundert erzählt, der man vermutlich nur in Fragmenten beikommt (hier 28 Texte, selten länger als drei Seiten). So steht ein Theaterbesuch, der von der Adaption von Dürrenmatts Besuch der alten Dame zur Verarbeitung omnipräsenter Grundstücks-Spekulation im Vorgarten armer Dorfgemeinschaften erzählt, ganz selbstverständlich neben einer Abhandlung über Indiens TV-Sender, wovon es 831 gibt.
Ein Spezifikum jeder Geschichte ist der letzte Satz. Der Autor versteht es, damit eine Pointe zu setzen, die kompakt zusammenfasst, das Thema nochmal auf eine andere Ebene hebt, und ihn vom Vorwurf des Eurozentrismus bewahrt, da er sich und seinen Hintergrund mit in den Vergleich hineinwirft. So endet die Beschreibung seines Lebens im luxuriösen Apartment inklusive Aircondition und Notstromaggregat mit einem nüchternen Fazit: „Für Expats gleicht dieses Leben einem natürlichen Kreislauf der Privilegien. Ich musste mich jedes Mal bewusst davon lösen. Das kostete Zeit, Mühe und Nerven. Denn da draußen funktionierte alles lauter, komplizierter und unpraktischer. Zugleich fühlte es sich menschlicher, verrückter und inspirierender an. Auch wenn dabei mal der Kühlschrank abtaute.“
Timm Neu ist sicherlich kein wortgewaltiger Romancier und nicht selten fehlen seinen Texten Satzzeichen oder Buchstaben – ein Faktum, das dem Lektorat des Westflügel Verlags zu denken geben sollte – , aber er schafft in 130 Seiten eine Verbindung aus romantischem Narrativ und Lebenslust, die den Leser mitnimmt auf eine Bewegung: die im Standard beginnt, in den indischen Strudel mitreißt und am Ende mit Erfahrung angereichert und einigen Vergleichen ausgestattet endet. Crash Boom Bangalore ist ein Buch zum Nachfühlen, ein Buch für alle, die in Indien Expats waren oder es noch werden wollen …
Timm Neu: Crash Boom Bangalore, Westflügel Verlag 2017, 130 S., 12,99 Euro
http://www.westfluegel-shop.de/crash-boom-bangalore/
Kommentare 5
ja, unterhaltsame beschreibungen lesen,
ist dem leben in ("shit-holes"wie) pakistan und indien vorzuziehen,
wenn man keine dauer-karte fürs disney-land hat.
Hallo denkzone8, der Zusammenhang Ihrer drei Teilsätze wird nicht ganz klar. Wie ist das gemeint?
absurdistan ist nirgendwo weit entfernt,
wenn man als genauer beobachter
distanz zwischen sich
und die im lebens-kampf/lust-erleben involvierten legen kann.
man muß als mensch nur einen schalter umlegen,
um aus der halb-bewußten welt der routinen und rituale
zum geistigen aussteiger zu werden.
wiki:-->exzentrische positionalität.
die distanzierte betrachtung von fremden,aber auch heimat-lichem
bringt das un-heimliche darin zum bewußtsein.
der ethnologische blick/die soziologische perspektive
kann außer atem-beraubend: sogar unterhaltsam sein, wenn
sinn-orientiertes verhalten und ziel-erreichung/verfehlung
verglichen werden.
diese quasi-ästhetische einstellung/perspektive ist
der zynischen ausnutzung/dem erleiden der betroffenen
so entfernt wie das komödien-spiel auf der bühne
dem unterhaltungs-bereiten theater-besucher.
... ach so, der quasi-ästhetische Blick auf Disneyland, der zur exzentrischen Positionalität führt; das war gemeint!
Ich dachte schon, es ginge um Ironie und eine Dauerkarte ...
nee,
die eine dauerkarte fürs disneyland (irgendwie) in die hand bekommen haben,
nutzen sie, um ohne ablenkungen zum ihrem ziel kommen: fun.
die nehmen an amüsierten betrachtungen auf distanz,
gar: ernstem kampf um existenz-not-wendiges
in praxis-nähe nichtmal beiläufig teil.