Verfluchtes gelobtes Land

Algerien An so vielen Orten in Algier sieht und spürt man, wie groß der Einfluss Frankreichs über die Kolonialzeit hinaus in dieser Stadt nach wie vor ist

Dieser Staat kann die besondere Rolle einfach nicht verleugnen, die er im französisch-afrikanischen Verhältnis spielt. Als größtes Land des Kontinents – von den Franzosen vor fast 200 Jahren besetzt – errang Algerien 1962 nach einem erbitterten Krieg seine Unabhängigkeit. In den neunziger Jahren, als aus der Republik ein Schlachthaus wurde und Hunderttausende einer schier endlosen und schmutzigen Schlacht zwischen der Regierung und den Islamisten zum Opfer fielen, war Paris für algerische Extremisten das Ziel Nr. 1. 1995 wurde dort der moderate Imam Abdelbaki Sahraoui von der Groupe Islamique Armé (GIA) ermordet. Es folgte Anschlag auf Anschlag, bei denen immer wieder Menschen getötet wurden.

Sehr viel später, im März 2012, erschütterte Frankreich über neun Tage hinweg erneut eine Mordserie. Zu den Opfern gehörten drei französische Soldaten nordafrikanischer Abstammung, ein Rabbi, dessen zwei kleine Söhne und ein weiteres Kind. Bevor der Täter – ein junger Franzose algerischer Abstammung – von der Polizei in seiner Wohnung erschossen wurde, schrie er von seinem Balkon, er habe „Frankreich in die Knie zwingen“ wollen. Danach war in algerischen Zeitungen die Entrüstung darüber groß, wie sehr die Mordserie in Frankreich mit der algerischen Abstammung des Täters in Verbindung gebracht wurde. Viele Kommentatoren in Algier empfanden das als blanken Rassismus. Radikale Islamisten erklärten den Täter zum Helden, der es verdient habe, in den Moscheen von Algier als „Löwe“ gepriesen zu werden. 50 Jahre nach dem Ende des Kolonialkrieges zwischen 1955 und 1962 schien es so, als könnten sich beide Länder noch immer gegenseitig an die Gurgel gehen.

Iran am Mittelmeer

Erklärt eine belastende Geschichte dieses Phänomen? Die Franzosen besetzten Algerien 1830 und schritten zur ersten Kolonisation eines arabischen Landes seit den Kreuzzügen – ein Schock für die arabische Nation. Zur ersten Schlacht um Algier reisten Schaulustige auf Vergnügungsschiffen aus Marseille an, um den Beschuss der Stadt und das Anlanden französischer Truppen zu sehen. Wer dem Spektakel mit Operngläsern vom Sonnendeck aus zusah, der störte sich nicht an den Leichen getöteter Araber, die am Strand herumlagen. Das Trauma vertiefte sich, als Algerien einige Jahrzehnte später nicht den Status einer Kolonie erhielt, sondern von Frankreich einfach annektiert wurde. Dem Land blieb jeder Anspruch auf seine Identität aberkannt. Es unterstand ebenso der Regierung in Paris wie Burgund oder Elsass-Lothringen.

Vielleicht erklärt dieses Vermächtnis, weshalb es in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts fast unmöglich war, als Franzose Algerien zu besuchen. Die Regierung führte einen verdeckten Bürgerkrieg gegen islamistische Aufständische, die das Land in einen „Iran am Mittelmeer“ verwandeln wollten. Ausländer wurden von den Islamisten zu Feinden erklärt und ermordet. Unter den wenigen Nicht-Algeriern, die es wagten, im Land zu bleiben, waren hartgesottene Reporter wie Robert Fisk, der davon erzählt, wie er sein europäisches Gesicht hinter einer Zeitung verbarg, wenn er in Algier mit dem Auto unterwegs war, und nie länger als vier Minuten auf der Straße stehen blieb, um nicht entführt und getötet zu werden.

Als ich selbst 2009 erstmals nach Algier kam, waren der Waffenstillstand und die Amnestie schon seit fast zehn Jahren in Kraft. Doch passierte ich auf der Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt nicht weniger als sechs Polizeikontrollpunkte, die alle mit schwer bewaffneten Männern besetzt waren. Wurde es dunkel, leerte sich die Stadt. Während der bleiernen Zeit nach 1991 hatte es kaum jemand gewagt, nach Einbruch der Dunkelheit vor die Tür zu gehen. Und diese Gewohnheit war erhalten geblieben.

Als ich in mein Hotel fuhr, konnte man sehen, dass Algier neben Marseille, Neapel, Barcelona oder Beirut zu den großartigsten Städten des Mittelmeerraumes gehört. In der Dämmerung ließen sich noch die Pinienwälder der umliegenden Berge und der großartige Strand erkennen. Aber anders als Marseille oder Barcelona blieben in Algier nach den ersten spätnachmittäglichen Schatten die Bordsteine hochgeklappt.

Während der folgenden Tage sah ich mir die ganze Stadt an, lief über die Boulevards, erklomm ansteigende Straßen und blickte von oben aufs Meer. Ich sprach mit so vielen Menschen wie möglich – mit Lehrern, Ladeninhabern, Studenten, Journalisten. Sie alle waren bemerkenswert offen und begierig, einem Fremden zu erzählen, was ihnen in den Jahren des islamistischen Terrors widerfahren war. Eine elegante Universitätsdozentin für Marxismus und Feminismus erzählte mir, wie sie manchmal auf dem Weg zur Universität an Leichen vorbei musste, die mit abgeschlagenem Kopf an die Tore ihres Instituts gehängt wurden. Ein Journalist erinnerte sich an die böse Paranoia, die seinerzeit zum Alltag gehörte. Auf der Straße konnte es vorkommen, dass eine Gruppe bärtiger Männer auf jemanden zeigte und mit eindeutiger Geste zu verstehen gab, dass demjenigen bald die Kehle durchgeschnitten würde. Eine junge Studentin, die im „Todesdreieck“ aufgewachsen war – wie die von den Terroristen kontrollierten Dörfer vor den Toren Algiers genannt wurden –, erzählte mir, wie sie sich als Kind das Blut von den Füßen abwaschen musste, nachdem sie nach einem Massaker durch die morastigen Straßen ihres Ortes geschlichen war. Trotz dieser schrecklichen Geschichten überwog bei mir die Freude. Ich musste lange darauf warten, nach Algier zu kommen. Zwei Jahrzehnte hatte ich in den Nachbarländern Marokko und Tunesien gearbeitet und die ganze Zeit davon geträumt, Algier zu sehen, die Hauptstadt des frankophonen Nordafrika.

Wie in Marseille

Am meisten freute ich mich auf die Kasbah – die osmanische Altstadt, die sich von einem Gebirgszug bis hinunter zum Meer erstreckt. Heute ist sie zu einem Slum verkommen. In ihren engen, alten Gassen stinkt es nach Kloake. Unvollendete Renovierungsprojekte und eingestürzte Häuser haben klaffende Löcher gerissen. Viele Bewohner sind der Überzeugung, den Behörden wäre es am liebsten, wenn die Kasbah völlig abgebrochen würde. Das Viertel werde lediglich als Zufluchtsort für Kriminelle und Terroristen betrachtet. Gemunkelt wird auch von Immobilienspekulanten, die auf Filet-Grundstücken Hotels, Bars und Geschäfte errichten wollen, auch wenn es sich nach wie vor um den historisch bedeutsamsten Erinnerungsort in ganz Nordafrika handelt.

Von der Kasbah aus nach Algier hinunterzugehen, ist eine fast unheimliche Erfahrung. Nicht wegen des üblichen europäischen Klischees, arabische oder osmanische Städte seien „zeitlos“ oder „mittelalterlich“. Vielmehr handelt es sich um das traumhafte Gefühl, ohne es zu wissen schon einmal hier gewesen zu sein. Das liegt zum Teil an der Unmenge an Filmen, Büchern und Bildern über und von einer Stadt, die den Eindruck vermittelt, man spaziere durch die Trümmer einer jüngst verworfenen Zivilisation, deren Bewohner eben erst in großer Eile abgereist sind und die persönlichsten Dinge zurückgelassen haben.

Gebt uns Visa!

Wenn man die Stufen zur Place des Martyrs hinabsteigt, zeigen sich die Überreste der französischen Stadt. Wenn man an der türkischen Moschee vorbeigeht, sind die Arkaden und Passagen mit jener geometrischen Präzision konstruiert, wie man sie in jeder französischen Stadt findet. Wenn man zwischen der Rue d’Isly (heute: Rue Larbi Ben M’hidi) und der Rue Michelet (heute Rue Didouche Mourad) flaniert, glaubt man in Lyon oder Bordeaux zu sein – ob die Straßen nun nach Helden des Kolonialkrieges gegen Frankreich benannt sind oder nicht. Die Symbiose spiegelt sich in so vielen Details – den Straßenschildern, den Laternen, den sorgfältig entworfenen Plätzen, den blau eingefassten Balkonen, den alten Trambahn-Gleisen und Pflastersteinen. Am exakten Mittelpunkt der Stadt liegt der Jardin de l’horloge, eine kompakte Gartenterrasse, von der aus der Blick direkt auf den Hafen hinausgeht und wo das Denkmal für die Franzosen, die ihr Leben für Algérie Française gegeben haben, verdeckt wurde. Wie in Venedig oder im Hafen von Marseille wirken die vorbeifahrenden Schiffe so nah, dass man glaubt, sie betreten zu können.

Bei meiner letzten Reise nach Algier stieg ich den Hügel zu Notre Dame d’Afrique hinauf, dem Gotteshaus, das praktisch von jedem Punkt der Stadt aus zu sehen ist. Mitte der neunziger Jahre standen die Priester hier unter Polizeischutz. Jetzt aber schien die Atmosphäre entspannt zu sein. Es war ein sonniger Tag und die Esplanade um die Kirche übersät mit Familien, die picknickten und die Aussicht genossen, während die Kinder Fußball spielten. Von der Terrasse aus ist der Bezirk Bologhine zu sehen, in dem sich das Fußballstadion sowie der jüdische und der islamische Friedhof befinden. Die Häuser an der Promenade wirken wie Kleinstädte in der Bretagne oder der Normandie, die man in eine Kulisse am Mittelmeer verpflanzt hat.

Ich fragte einen etwa zehnjährigen Jungen, der in einem Chelsea-Trikot Fußball spielte, ob er wisse, was das für ein Gebäude sei. „Eh bien oui,“ gab er in einem perfekten mediterranen Französisch zurück, das aus Marseille hätte sein können, „C’est la mosquée des Roumis. Mais il n’y a plus de Roumis.“ („Oh ja – das ist die Moschee der Römer. Aber die sind nicht mehr da.“)

Aus dem Algier des 21. Jahrhunderts sind die Franzosen zwar verschwunden, aber Frankreich gilt noch immer als Feind schlechthin und repräsentiert doch zugleich das gelobte Land. Tagsüber sind die Straßen der Altstadt voller arbeitsloser junger Algerier, die von Frankreich träumen, doch keine Chance haben, ein Visum zu erhalten. Jedes Mal, wenn in den vergangenen Jahren ein französischer Präsident das Land besuchte – ob Chirac 2003, Sarkozy 2007 oder François Hollande gerade eben im Dezember –, fordern Sprechchöre: „Gib uns unsere Visa!“

Die Algerier, die es nach Frankreich geschafft haben, finden eine seltsam unfreundliche, feindselige Atomsphäre vor, wenn sie zurückkehren. Wem die Flucht verwehrt blieb, der will sich nicht an denen berauschen, denen sie gelungen ist. Niemand weiß so genau, wann der letzte „Befreiungskrieg“ der Islamisten eigentlich genau aufgehört hat. Man weiß lediglich, dass die Zahl der Getöteten und Gemeuchelten zurückging. Frei fühlt sich niemand. Die Anspannung hängt nach wie vor in der Luft und wartet darauf, sich wieder in einem Gewitter zu entladen.

Andrew Hussey schrieb das Buch The French Intifada und ist Dekan an der University of London Übersetzung: Holger Hutt

AUSGABE

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 8/13 vom 21.02.20013

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