"Apfelkuchen, Käsekuchen, Buttertrüffeltorte, Schoko-Royaltorte, Champagnertorte, Calvados-Nougattorte, Himbeerkäsetorte, Mandarinensahnetorte, Rhabarberstachelbeertorte, Birnenzupfkuchen", mir bleibt die Luft weg, "Schwarzwälderkirschkuchen, Erdbeerschnitte und die Sachertorte haben wir natürlich auch noch." Unentschlossene Gesichter schauen mich an, ignorieren meine vom Stress geröteten Wangen, ignorieren die Tatsache, dass ältere Herrschaften von anderen Tischen nervös nach der Bedienung Ausschau halten.
"Was haben Sie am Anfang gesagt, Käsekuchen? Haben Sie auch Diabetikerkuchen?", fragt die Dame aus der gemütlichen Witwenfraktion. Innerlich koche ich und bereue, sämtliche Kuchensorten aufgezählt zu haben. Eigentlich haben die Gäste an das Kuchenbüfett zu gehen, um selbst auszuwählen, bevor sie bei mir bestellen. Soviel zu Theorie. In der Praxis würde das aber bedeuten, dass die Grazien von ihrem frisch ergatterten Tisch auf der Außenterrasse unter den rot weißen Markisen aufstehen müssten, um sich durch den überfüllten Saal, an Rollstühlen, unbeholfenen Krückengängern und genervten Kellnern vorbei bis an das Büfett durchzukämpfen. Dort würden sie weitere zehn Minuten stehen und mich garantiert beim Vorbeilaufen anhalten, um ihre Wunschliste vorzubringen. Nicht machbar, jetzt zur Kaffeezeit, wo Busladungen von Touristen aus dem Fahrstuhl quellen und wie die Geier an die wenigen freien Tischen flattern, Stühle und Tische hin und her rücken und sofort nach dem Kellner brüllen.
"Nein, wir haben keinen Diabetikerkuchen, können wir jetzt bestellen", sage ich gepresst, gebe dem Herrn vom Nebentisch ein Zeichen, der einem Herzinfarkt nahe scheint. Sein hastiges Suchen nach dem Portemonnaie verrät alles, der Zug, das Flugzeug oder sonst was wartet schon auf ihn. Dennoch wird er mich vorher fragen, wo das Brandenburger Tor ist, warum das Kranzler nicht mehr das ist, was es einmal war, wird mich darum bitten ein Foto von ihm zu schießen, um dann 20 Cent auf die Rechnung zu legen und mir großzügig auf die Schulter zu klopfen.
Im Café Kranzler, dem vermeintlich traditionsreichstem Kaffeehaus Berlins, das als Treffpunkt der Crème de la Crème galt, als das Wahrzeichen Westberlins gefeiert wurde, habe ich eine Anstellung als studentische Aushilfskraft gefunden. Wer einst vom Kurfürstendamm in die Fenster des Kranzler schaute, dem mochte das Café als ruhiges, gemütliches, elitäres Fleckchen Erde erscheinen, in dem Prominente bei Kaffee und Kuchen über Gott und die Welt redeten, eine Spezies übrigens, die ich in meiner achtmonatigen Laufbahn noch nicht erblickte.
Das dreistöckige, plüschige Kranzler, mit Sommer-Bestuhlung auf dem Kürfürstendamm, existiert seit nunmehr vier Jahren in seiner alten Form nicht mehr. Dass es überhaupt noch besteht, ist dem Denkmalschutz zu verdanken.
Wo noch der Schriftzug Kranzler steht, regiert heute der Bekleidungskonzern Gerry Weber. Der regiert überdies auch das Kaffee, das in die Rotunde verbannt wurde. Eine Geschichte, die ich, dank der Aufschrift "Gerry Weber" auf meiner Kellnerschürze, an fast jedem Tisch erzählen darf. Dabei hat das Kranzler ja noch Glück gehabt, denn die alte Kaffeehauskultur am Kürfürstendamm ist längst zu Ende. Im Mai 2000 gab das Café Möhring nach fast 100 Jahren seinen Standort auf. Auch das bekannte Café Schilling hat geschlossen, und die Namen Wellenstein und Reinhards gehören der Vergangenheit an, stattdessen gibt es noch einen H mehr. Kaffee trinkt man jetzt aus dem Pappbecher "to go" bei Starbucks oder Caras.
Leider haben Touristen, die jahrelang nicht in Berlin gewesen sind, davon nichts mitbekommen. Sie folgen dem Mythos des legendären Café Kranzler, wollen sehen und gesehen werden, wollen sich zu den oberen Zehntausend zählen, die einst das Aushängeschild des Kranzler waren. Skepsis überkommt sie, bevor sie bei mir am Tisch sitzen. Denn wer ins Kranzler will, muss ein bisschen suchen. Erst einmal muss er durch den Flur des Gerry Weber Hauses am Café Caras vorbei, wo das junge Volk über den Latte Macchiato herrscht, wird sich dann in einen kleinen Fahrstuhl quetschen, gut gelaunt den Knopf Kranzler drücken und zwei Stockwerke ins mutmaßlich Bekannte hinauffahren. Die Fahrstuhltür öffnet sich, Vorhang auf zum neuen Akt, leider hat sich die Kulisse vollständig verändert, es wird ein anderes Stück gespielt.
"Ist das das Kranzler?", wird flugs gefragt.
"Ja", sage ich immer, das ist es, das ist das Neue Kranzler, wobei ich die Betonung auf neu lege. Neu ist in der Tat alles. Dunkle Lederstühle, dunkle Marmortische, dunkler Teppich geben dem Raum den Charme eines Flughafenbistros. Die Tische schmückt ein Arrangement aus gelben und weißen Chrysanthemen. Auf der Außenterrasse geht es bunter zu, platziert auf rote Plastikstühlen, von rot-weißen Geranien umgeben, kann man auf den Ku´damm hinabschauen. Hinauf schaut niemand.
"Kännchen Kaffee und ein Leitungswasser für meine Tabletten, bitte!", bestellt eine Dame mit Hut aus Süddeutschland. "So, da ist Ihr Kaffee und Ihr Glas Wasser, bitteschön", sage ich freundlich."Ich habe aber ein Kännchen bestellt", fährt sie mich jetzt an.
"Ich weiß, das ist aber unser Kännchen, Kaffee gibt es im Pott, wie es in der Karte steht."
Sie ist unzufrieden, das gefällt ihr gar nicht, früher, da gab es Kännchen. Das Leben trennt oft, was zusammen gehört.
"Dann nehme ich noch ein Stück Kuchen, haben Sie Erdbeer?"
Natürlich haben wir Erdbeerkuchen, natürlich bekommt sie ihren Kuchen, natürlich werde ich trotzdem nochmals an den Tisch gerufen.
"Stimmt etwas nicht?" Auf ihrem Teller liegt der von der Gabel durchgestocherte Kuchen.
"Den esse ich nicht, nehmen Sie ihn bitte mit."
"Aber wollten Sie keinen Erdbeerkuchen?", mir fallen gleich die Hände vom Tragen der schweren Teller ab.
"Ich habe meine Zähne vergessen und kann ihn nicht kauen", sagt die Dame. Was soll man dem noch entgegnen?
"Alles verändert sich, es wird nur nicht besser", gibt mir die Kundin mit auf den Weg, als sie geht. Eigentlich wollte sie noch nicht zahlen, wollte bleiben, wollte zur Toilette. Da diese aber drei Stockwerke tiefer ist, entscheidet sie sich zu gehen. Erleichtert wurde ihr die Entscheidung sicherlich durch die stehende Meute um sie herum, die darauf wartete, dass der Tisch frei wird. Irgendwie tut sie mir Leid. Es ist, als hätte man ihr ein Stück Lebensgefühl genommen. Sie ist nur noch Stück einer vergangenen Zeit.
Manchmal lasse ich meinen Blick durch das Lokal schweifen, sehe die grauen Köpfe hinter den Chrysanthemen, sehe, wie zittrige Hände die Kuchengabeln heben, und habe unweigerlich Visionen. Das Bild kommt mir bekannt vor, der Raum versprüht einen leicht morbiden Charme. Ich erinnere mich, dass ich im Zivildienst großen Respekt vor dem Alter hatte. Doch dort waren die Alten krank. Hier im Kranzler musste ich lernen, dass sie auch nur Menschen sind. Ungeduldig, zickig, jähzornig, aggressiv, frustriert und unzufrieden. Vor allem ungeduldig, keine Minute vergeht, da wird der Kellner gerufen, ohne vorher in die Karte geschaut zu haben. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Menschen mit dem Finger schnipsen sehen, etwas was bei Kellnern eigentlich verpönt ist.
Es ist nahezu grotesk, dieses Stück mit all seinen alten Akteuren und dem Inhalt, der sich längst geändert hat. Pott statt Kännchen, "Flying Büfett" statt Frühstück, ein schweres Erbe, das auch die neue Chefin angetreten hat. Sie weiß, dass das Kranzler nicht mehr das sein kann, was es einmal war. Das möchte sie auch nicht, so scheint es. Sie ist eine Geschäftsfrau mit Sinn für neue Ideen. Neuerdings gibt es auch Live Musik im Kranzler und die Option, Partys zu veranstalten. Vor allem das jüngere Publikum soll damit angesprochen werden. Verzeichnete die alte Speisekarte noch die Geschichte des Kranzler, so steht in der neuen so etwas wie "selbst die junge Szene hat das nostalgische Flair für sich entdeckt". Das Café kann wahlweise auch in einen Tanztempel verwandelt werden. Die in Diskolicht eingetauchte Rotunde mit ihren rot-weißen Markisen über den Dächern des Neuen Kranzlerecks hat in der Tat einen eigenwilligen Charme. Strukturwandel Kranzler. Das Logo durfte die Chefin nicht ändern, es steht ja unter Denkmalschutz.
Auszeit. Wochen lang stand ich nicht im Dienste des Kranzlers. Morgen ist es dann wieder so weit, Frühschicht. Ich muss gestehen, es hat mir gefehlt. Noch nie löste eine Arbeitsstelle soviel Faszination in mir aus, und sei es auch nur die Faszination des Grauens. Eine Mitarbeiterin ruft mich an. Es hat sich einiges geändert. Ich soll die Tische eindecken. Außerdem gibt es von nun an wieder Kaffee im Kännchen. Das Kännchen ist wieder da.
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