Zerstörter Glaube

Antisemitismus Warum nehmen immer weniger Menschen Anstoß an der wachsenden Diskriminierung von Juden?
Deutschland freut sich über die neue jüdische Vielfalt - oder etwa doch nicht?
Deutschland freut sich über die neue jüdische Vielfalt - oder etwa doch nicht?

Fotos: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Ist nicht wahr, oder?“, sagte ein Freund aus New York am Ende eines herzlichen Lachanfalls. Er holte Luft und sah mich eindringlich an, um zu sehen, ob ich es ernst meinte. Dann wiederholte er seinen Ausruf, diesmal jedoch als besorgte Frage, aus der jedes Lachen verschwunden war. So sind die Reaktionen häufig, wenn ich über Antisemitismus in Deutschland erzähle. Diese galt der sogenannten Beschneidungsdebatte. Manchmal ist es ganz gut mit jemandem zu reden, der nicht in Deutschland lebt, das erleichtert den Perspektivwechsel. Und den brauche ich manchmal, um Dinge auszuhalten. Eigentlich kann jeder ihn gebrauchen, vor allem, wenn es um Juden und Deutschland geht.

Eines ist mir in den letzten Wochen klar geworden: Das jüdische Leben hat sich entwickelt, es ist diverser geworden und selbstbewusster, manchmal sogar selbstverständlicher als noch vor zehn Jahren. In Berlin leben inzwischen chassidische, orthodoxe, säkulare, liberale, egalitäre, fromme, gar nicht religiöse, deutsche, amerikanische, israelische, russische Juden, mit und ohne Vorhaut. Die allermeisten ohne. Es gibt etliche Stammtische: israelische, englischsprachige, russischsprachige, deutschsprachig sind sie alle parallel dazu. Berlin ist cool für Israelis und New Yorker, für Juden aus Budapest oder Georgien, eingewandert, zu Besuch, hier geboren, hier aufgewachsen – alle Facetten finden sich in dieser Stadt. Berlin ist ein Ort auf der jüdischen Landkarte geworden. Und so divers wie diese Juden sind ihre Auffassungen. Sie streiten über Kunst, Politik, Alltag, sie erläutern, schlaumeiern, schimpfen, debattieren. Und sie sind dabei selbstironisch oder bitter: Sie tun also, was Juden überall auf der Welt tun.

Doch sie tun es in Deutschland, und das macht einen Unterschied. Unter ihnen leben auch diejenigen, die den Judenmord überlebt haben, und deren Kinder. Sie sind extrem traumatisiert. Das gilt vor allem für Menschen wie Charlotte Knobloch, die von sich selbst als Deutsche jüdischen Glaubens sprechen. Die deutschen Juden haben, gerade wegen ihrer Liebe zu ihrem Land, mehr als das übliche Trauma der Überlebenden erlitten. Ganz besonders traf sie die enttäuschte Liebe zu Deutschland, der Verrat durch die so bewunderten Deutschen. Schwer nur ertrugen sie die Erkenntnis, dass sie zwar eine innige Beziehung zu Deutschland hatten, doch darin ganz offensichtlich allein geblieben waren. Denn obwohl sie sich anstrengten, selbst nach und trotz der Shoa, blieben sie, was sie immer waren: nicht Deutsche jüdischen Glaubens, sondern Juden deutschen Glaubens.

Unverhohlene Ressentiments

Die Beschneidungsdebatte mit ihren aggressiven Auswüchsen ist zu einer Plattform des offenen, unverhohlenen Ressentiments geworden. Sie hat nun den Rest dieses Glaubens an Deutschland zerstört. In diesem Streit geht es schon längst nicht mehr um Argumente, sondern um das Jüdischsein selbst. Charlotte Knobloch fragt, ob Deutschland die Juden denn überhaupt noch will. Sie fragt es aus jener tiefen Kränkung heraus, die bei zurückgewiesener Liebe entsteht.

In der Tat bedeuten für viele Juden Ton und Inhalt der Beschneidungsdebatte Folgendes: Wenn man uns dieses, für die Identität zentrale Ritual austreiben will, bedeutet das, wir sollen doch endlich aufhören, Juden zu sein. Wir sollen uns nicht immer so anstellen mit unseren Eigenarten und den dauernden Diskussionen um Vorhaut, Israel, Holocaust. Wir sollen eben nicht schimpfen, debattieren, schlaumeiern mit und ohne Selbstironie.

Viele Juden, religiöse und säkulare, sehen in der Beschneidungsdebatte nicht nur Rechthaberei, sondern einen Kulturkampf gegen jüdisches Leben in Deutschland. Erst rühmt man sich des Erblühens der jüdischen Gemeinschaft im Land der Täter und dann will man es an so zentraler Stelle maßregeln?! Also fragt Frau Knobloch zu Recht: Was denn nun? Wollt ihr nun Juden in Deutschland oder nicht? Denn eines ist gewiss: Jüdisches Leben existiert nicht als Persilschein für die Nachgeborenen, nicht als Beleg, dass „alles wieder gut“ ist. Es existiert um seiner selbst willen und nicht, um der Entlastung und Verdrängung ein neues Gesicht zu geben.

Wenig souverän

Die jüdische Vielfalt ist da, aber wie sieht es im deutschen Umfeld aus? Ist es mitgewachsen? Hat es sich an die verschiedenen jüdischen Stimmen und Existenzen „gewöhnt“? Einschließlich der traumatisierten? Die Antwort darauf hängt von der Perspektive ab. An einem Ort, an dem man sich daran gewöhnt hat, werden die Debatten anders geführt. So jedenfalls sagt es mein Freund aus New York. Selbstverständlich streitet man auch dort über Israel, um eines der Beispiele zu nehmen. Doch würde es als gezielte und aggressive Provokation gelten, ausgerechnet am 11. September einen Adorno-Preis an Judith Butler zu verleihen, einer Wissenschaftlerin, die einer kruden leninistischen Theorie das Wort redet, nach der jeder Feind des Imperialismus und sei er noch so reaktionär – also auch die antisemitischen Terrorgruppen Hamas und Hisbollah – ein Teil der globalen Linken und damit revolutionär ist. Dieser plumpe Antiimperialismus, dieses leninistische Denkmodell, hat es längst in den Mainstream geschafft, weit über die Linke hinaus. Ganz besonders, wenn es um Israel geht und damit ebenso um die Juden, die auch ungewollt genötigt werden, zu Israel Stellung zu beziehen. Und sicher gibt es auch in New York Beschneidungsgegner. Doch eine Debatte wie die in Deutschland gebe es dort nicht. Sie würde aus den verschiedensten Gründen als vollkommen absurd gelten, ja als bizarr. Umso größer ist das Erstaunen darüber, wie wenig gelassen und souverän in Deutschland diese Auseinandersetzung verläuft.

Eine Antwort der Bundesrepublik auf den Antisemitismus der Nachkriegszeit war seine Ächtung im öffentlichen Raum. Die andere bestand in der institutionalisierten politischen Bildung. Hier wurde und wird der Sinn von Demokratie vermittelt, das Wissen über Menschenrechte geschult und dem Antisemitismus das Bild einer insgesamt diversen Gesellschaft entgegengehalten, in der auch Juden einen sicheren Platz finden. In der DDR lief das anders. Sie selbst, die Tatsache ihrer Existenz sollte als die universelle Antwort auf den Faschismus gelten. Mit der Abschaffung des Finanzkapitals als der Ursache für Rassismus und Antisemitismus galten auch die Probleme mit der Einstellung in der Bevölkerung als nicht nur strukturell, sondern auch real überwunden. Nach der Vereinigung kam es zu keiner neuen Antwort auf den sich ständig verändernden Antisemitismus. Auch nicht, als Deutschland nach langen, mühevollen Kämpfen ganz offiziell Einwanderungsland genannt werden durfte. Und nicht, als das jüdische Leben vielfältiger zu werden begann. Die Antwort blieb die gleiche. Doch sie hält den Veränderungen und Herausforderungen der Gesellschaft und den diversen Formen des modernen Antisemitismus nicht mehr stand. Und so bröckelt auch dessen gesellschaftliche Ächtung.

Als der Rabbiner Daniel Alter von Jugendlichen zusammengeschlagen wurde, weil sie ihn als Juden identifizierten, gab es einen Aufschrei. Aber obwohl diese konkreten Täter – vermutlich muslimisch-arabischer Herkunft – nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören, ist dieser Angriff Teil einer zugespitzten, antisemitisch aufgeladenen Atmosphäre. Er ist eingebettet in eine allgemeine Stimmung, die viele Juden zutiefst verunsichert. Und diese kommt aus der Mitte der deutschen Gesellschaft.

Obsession der Deutschen

Gewiss ist muslimisch-arabischer Antisemitismus ein ernst zu nehmendes Problem, doch eignet sich der Angriff auf den Rabbiner jetzt keineswegs dafür, nun mit den Fingern auf diese Einwandergruppe zu zeigen. Die Obsession der Deutschen mit den Juden und „ihrem“ Nahostkonflikt bringt seltsame Allianzen hervor. Je nach dem, wie deren Präferenz in diesem Konflikt aussieht, werden Juden und Muslime in „gute Semiten“ und „schlechte Semiten“ geteilt. Die einen halten zu den Muslimen und ihrem Kampf „gegen den Zionismus“, die anderen zu den Juden, weil sie in ihnen Verbündete gegen „muslimische Überfremdung“ vermuten.

Beides hat herzlich wenig mit den realen Gruppen und ihren Bedrängnissen zu tun. Beides tröstet nicht über das Fehlen von Empathie. Beides erlöst nicht von Rassismus oder Antisemitismus. Minderheiten in Deutschland mögen zwar inzwischen im Stadtbild selbstverständlich sein, zum deutschen Selbstverständnis gehören sie aber noch lange nicht. Weder die einen noch die anderen. Und beides hat mein Freund aus New York nur ungläubig zur Kenntnis genommen.

Die in Deutschland lebenden Minderheiten wollen keine Bekenntnisse gegen Rechtsextremismus und Rassismus, solange es sein kann, dass auf einem Arbeitsamt eine schwarze Frau von Polizisten erschossen wird, weil sie sich nicht abweisen lässt. Und solange sich dafür niemand interessiert und niemand zur Verantwortung gezogen wird. Und die Juden wollen keine Tränen über die Toten des Holocausts, wenn gleichzeitig der Respekt für die Lebenden fehlt, sie beleidigt, bedrängt oder angegriffen werden. Solche Tränen gehören den Krokodilen. Und solche Bekenntnisse sind für die Katz.

Anetta Kahane wuchs als Tochter jüdischstämmiger Kommunisten in der DDR auf. Sie ist Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin

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