Arafat und seine Kinder

Ein Jahr Intifada Noch nie war der PLO-Chef so mächtig und noch nie so machtlos

Nicht länger als zwei, drei Wochen, aber dann in opulenter Pracht, blühen im Frühherbst die niedrig wachsenden, weitverzeigten Bonsianabäume. Wie ein Schleier liegen dann frühmorgens grellorange Blütenblätter auf den Straßen und in den Vorgärten von Gazas altem Villenviertel Rimal. Hier gibt es Ecken, die den Anschein haben, als befänden sie sich außerhalb von Raum und Zeit, als hätte dort der nun schon ein Jahr lang währende gewaltvolle Alltag der neuen Intifada keinen Zutritt. Dabei liegt die kraterdurchfurchte Umar-Muchtar-Straße in unmittelbarer Nähe, jene Hauptverkehrsader der Stadt, die zum bevorzugten Angriffsziel für israelische 16-Millimeter-Geschosse geworden ist.

Doch an diesem Vormittag ist auch Rimals Idylle gestört. Zivil gekleidete Sicherheitsbeamte und die militärisch auftretenden Leibgarden Arafats verlangen, dass der Platz vor der Villa der Aulad as-summud, der "Standhaften Waisenkinder", geräumt wird. Die meisten der parkenden Autos aber gehören den Besuchern - ehemaligen Bewohnern des Hauses, die auf Einladung Arafats zu einem gemeinsamen Mittagessen zusammengekommen sind. "Als ob die Unruhe, die diese Jugendlichen in unser Viertel gebracht haben, nicht ohnehin schon belastend genug ist!" beschwert sich einer der Nachbarn. Andere kommentieren missbilligend die Beflaggung des Waisenhauses. Auf dem Dach des einstöckigen Gebäudes mit breiter, ausladender Treppe zur Veranda weht neben der palästinensischen die amerikanische Fahne auf Halbmast.

Eine kontroverse Symbolik - gerade an diesem Tag, da man in Gaza der Terror-Opfer von Sabra und Shatilla im September 1982 gedenkt. Außerhalb des Waisenhauses hat es deshalb heftige Diskussionen gegeben Für die Jugendlichen jedoch, von denen einige in Amerika studieren oder studiert haben und dort inzwischen auch wohnen, ist es keine Frage, auf diese Art Solidarität zu bezeugen.

Sie heißen alle Arafat

Die meisten der "Standhaften Waisenkinder" sind in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatilla im Süd-Libanon geboren. Sie waren noch Säuglinge, als ihre Eltern zu Opfern eines Massakers wurden, das seinerzeit christliche Milizen unter den Augen der israelischen Armee an wehrlosen Zivilisten verübten. Die Frauenorganisation der PLO nahm sich der Kleinen an, brachte sie in Zeltlagern unter und versorgte sie mit dem Nötigsten. Später wurden mit Hilfe von Spendengeldern Patenschaften und Adoptionen organisiert und ein neues Zuhause im Libanon eingerichtet. Khalda galt als Waisenhaus mit luxuriösem Lebensstandard, gemessen an den ärmlichen Verhältnissen der meisten anderen Flüchtlinge. Zu dieser Zeit fanden sich für dieas-summud-Kinder immer genügend Gönner - die gesamte arabische Nation sah sich diesen Kindern verpflichtet.

1995 - wenige Monate nach dem Einzug der Palästinensischen Selbstverwaltung - siedelten die Waisen von Tunis nach Gaza über. So wie sie immer dann, wenn die PLO gezwungen war, sich eine neue Bleibe zu suchen, dem Hauptquartier gefolgt waren - erst aus dem Libanon nach Syrien und von Syrien nach Tunesien. Die meisten der rund 30 Aulad as-summund, die heute zusammengekommen sind, wissen noch nicht einmal den Namen ihrer leiblichen Eltern. Ihre Vornamen erhielten sie von ihren Adoptiveltern. In den 1996 von der Palästinensischen Selbstverwaltung ausgestellten Pässen steht unter "Vater" Jasir und unter "Mutter" Suha - die Frau des PLO-Chefs. Mit Nachnamen heißen sie alle Arafat, und sie begreifen sich als Geschwister - Hochzeiten untereinander sind ausgeschlossen.

Enttäuschte Rückkehrer

Heute sind die einst rund 500 Waisen alt genug, um für sich selbst zu sorgen. Die meisten haben ihre Ausbildungen abgeschlossen und geheiratet, kommen allenfalls zu Fest- oder Trauertagen wie heute zusammen. Viele sind in Syrien und Tunesien geblieben. Nur die kleine Gruppe der "Nesthäkchen" zwischen 19 und 24 begleitete die Adoptiveltern 1995 nach Gaza - den Großteil von ihnen hat es jedoch längst schon wieder fortgezogen.

Nicht nur die Aulad as-summud sind enttäuscht von der Rückkehr in die ihnen fremd gebliebene Heimat. Auch ihr Adoptivvater, der selbst als Vierjähriger zum Halbwaisen wurde, musste schon bald nach der Unterzeichnung der Friedensverträge erkennen, in welche Isolation er auf dem 365 Quadratkilometer großen Gazastreifen mit seinen von Israel restriktiv kontrollierten Grenzen geraten war. Das eigentliche Geschehen, die Auseinandersetzungen um den ungeklärten Status Jerusalems und die Souveränität des von israelischen Siedlungen auseinander gerissenen Westjordanlandes spielt sich außerhalb seines Blickfeldes und immer weiter entfernt von seinen politischen Einflussmöglichkeiten ab.

Als im Juli 1994 am ägyptischen Grenzübergang Rafah Hunderttausende Bewohner des Gazastreifens zusammengekommen waren, um die Rückkehr des ra´is zu feiern, der anderthalb Jahre später mit großer Mehrheit auch offiziell zum Interimspräsidenten der Palästinensischen Autonomiegebiete gewählt wurde, schienen Euphorie und Hoffnung grenzenlos zu sein. Auf nahezu jedem Haus in Gaza flatterte die grün-weiß-schwarz-rote Flagge. Stolz wurden die ersten von der Autonomiebehörde ausgestellten palästinensischen Pässe mit dem etwas schmächtig anmutenden Adler auf dem Cover nach Hause getragen, wo sie meistens in den Schubladen verschwanden, weil die Grenzen nach wie vor nur mit der seltenen israelischen Sondergenehmigung passiert werden konnten. Die neuen Arbeitsplätze in den Interims-Ministerien, der Stadtverwaltung, bei der Polizei oder den zahlreichen Sicherheits- und Informationsdiensten waren begehrt - alle höheren Positionen aber schon vergeben, noch bevor sie offiziell eingerichtet wurden.

Loyalität statt Demokratie

Die beneideten Rückkehrer aus dem Exil wurden nicht nur bei Einstellungen bevorzugt behandelt. Schon ein Jahr nach den Wahlen stellte sich heraus, dass unter der Selbstverwaltung nicht alle gleich sind. Korruption und Misswirtschaft prägen die Verwaltung Palästinas auf dem Weg zum Staat mit seinen Sicherheitsdiensten, die darauf angesetzt sind, sich gegenseitig und darüber hinaus alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu kontrollieren.

Wer beim ra´is in Lohn und Brot steht, ist deshalb heute nicht allzu angesehen. In Gaza unterscheidet man genau zwischen "Arafats Palästinensern" und "palästinensischen Palästinensern". Erstere kamen aus dem Exil. Ihre Nähe zu Arafat erlaubt es Ihnen bis heute, sich mit Privilegien zu versorgen. Die "palästinensischen Palästinenser" hingegen, von denen über die Hälfte bereits seit drei Generationen in Flüchtlingslagern lebt, fühlen sich als Verlierer des Friedensprozesses, weil der größte Teil der Investitionen an ihren Bedürfnissen vorbei geht.

Mit Ausbruch der Al Aaqsa-Intifada jedoch hat der schwelende Unmut gegenüber den innenpolitischen Missständen wieder ein Ventil nach außen gefunden. Gerade in Krisenzeiten appelliert Arafat an die Loyalität zum ra´is als dem leitenden Prinzip der "palästinensischen Demokratie". Mehrheitsentscheidungen des Parlaments oder Gesetzentwürfe, die den Einflussbereich des Interimspräsidenten definieren sollen, werden als überflüssig betrachtet und entsprechend behandelt. Das Grundgesetz - bereits in der ersten Legislaturperiode mehrheitlich von Parlament und Kabinett verabschiedet - konnte bis heute nicht in Kraft treten, weil Arafat sich einer Stellungnahme entzieht. Das Parlament schickt in regelmäßigen Abständen Mahnungen ans Präsidentenbüro, die unbeantwortet bleiben. Auch unter dem Schutz der Immunität wagt es keiner der 88 Abgeordneten diesbezüglich persönlich beim ra´is vorzusprechen.

Arafat war in der Vergangenheit nie zimperlich, Journalisten und Schriftstellern Themen vorzugeben oder sie zu zensieren, kritischen Professoren die Lehre oder Intellektuellen das Wort zu verbieten. Dennoch überrascht, wie wenig Druck er im politischen Alltag benötigt, um sich durchzusetzen. Opposition wird in einem genau abgesteckten Entfaltungsrahmen gebilligt und basiert in erster Linie auf dem Loyalitätsprinzip. Arafats Respekt rührt zu einem großen Teil aus der simplen Tatsache, dass es ansonsten niemanden gibt, der seine Aufgabe übernehmen will. Dabei zeigen Meinungsumfragen: Die Bevölkerung wäre durchaus bereit, jemandem zu folgen, der sich einem Bündnis mit Arafat bewusst entzieht oder gar entgegen stellt.

Fremde in der Heimat

Die Popularität des Arztes und Intellektuellen Haidar Abd al-Schafi ist ein Beispiel dafür. Der Abgeordnete hat der Regierung Korruption und Amtsmissbrauch vorgeworfen und aus Protest 1996 sein Amt niedergelegt. Als 1998 die einflussreiche Geschäftsfrau Rauwia Schauwwa die erste regierungskritische Oppositionsfraktion im Parlament gründete, wurde die fünfköpfige Gruppe von einer Welle der Solidarität aus allen Kreisen der palästinensischen Gesellschaft überrollt. "Die Menschen, die für Demokratie und Frieden gestimmt haben, sehnen sich nach neuen Hoffnungsträgern", analysierte die Oppositionspolitikerin, lehnte es aber gleichzeitig ab, für das Amt der Präsidentin zu kandidieren. Denn dann müsse sie ja fürchten, tatsächlich gewählt zu werden.

Die Palästinenser sind symbiotisch eng mit ihrer Geschichte seit 1947 verbunden. Bei aller Enttäuschung verkörpert Jassir Arafat, der mit 31 Jahren die al-Fatah gründete, mit 40 Jahren zum Vorsitzenden der PLO gewählt wurde und seitdem das Geschick und Missgeschick Palästinas dominiert hat, den markantesten Teil der Geschichte, an den die Palästinenser ihre Identität knüpfen. Er, der so offensichtlich die Macht liebt, hat nun die höchste Position erreicht. Die wird ihm bis zu seinem Lebensende auch niemand streitig machen. Gleichzeitig aber ist er noch nie so machtlos gewesen.

Die "Standhaften Waisenkinder", von denen noch keiner in Gazas eher traditionell ausgerichteter, sehr geschlossener Gesellschaft Fuß fassen konnte, wirken ratlos und enttäuscht, wenn sie über die Situation in Palästina und ihre Zukunft sprechen. Faris war vier Jahre, als seine Eltern 1982 ums Leben kamen - der Vater erschossen, von der Mutter fehlt jede Spur. An das, was geschah, kann er sich nicht erinnern. "Unsere ganze Erziehung stand im Zeichen der Rückkehr. Schon im Kindergarten hat man uns angespornt fleißig zu sein, eines Tages würde es auf unsere Generation ankommen, unser Engagement, unsere Fähigkeiten und Kompetenz würden gefragt sein, wenn es darum geht, unseren international anerkannten Staat aufzubauen."

Auch an diesem Tag fehlt in der Gedenkrede Arafats die übliche Trostformel nicht: "Eure Eltern sind für Palästina gestorben. Aber Ihr seid die Zukunft Palästinas!" - Wie fremd Arafat und seine Kinder der Heimat geblieben sind, ist an der großen Tafel kein Thema, wenn der ra´is mit hingebungsvoller Aufmerksamkeit für jeden Einzelnen die Suppe ausschenkt.

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