Auf dem Weg nach Hause und zu Gott

KAIROER NACHTLEBEN Anonyme Telefon-Amouren, verkaufte Mädchen und die Allmacht des Buwabs

Wachablösung bei Sonnenuntergang. Vor der Universität Kairo klettern die Soldaten aus den engen Gehäusen der Panzer und übergeben an die Nachtschicht. Es sind die letzten beiden Wochen im Semester, die Prüfungszeit hat begonnen. Den ganzen Tag über mussten die Studentinnen ihr Wissen unter Beweis stellen. Wenn sie zu dieser Stunde den Campus verlassen, begegnen sie ihren männlichen Kommilitonen, die darauf vorbereitet sind, von den überlasteten Professoren bis in die frühen Morgenstunden geprüft zu werden.

Ab 19 Uhr ist es einfach, im Bus einen Sitzplatz zu bekommen, benötigt man für jeden Weg durch die 17-Millionen Einwohner Stadt nur die Hälfte der Zeit, bieten die Mobiltelefongesellschaften die billigsten Tarife an. Höfliche Kairoer telefonieren jedoch niemals zwischen 19 und 22 Uhr. Die privatesten Stunden des Tages sind der Erholung von den Mühen des Alltags und einem üppigen Abendessen reserviert. Allenfalls werden die Werbepausen zwischen den täglich ausgestrahlten soap operas genutzt, um sich über das Fernsehgeschehen austauschen: Wer hätte mit dieser überraschenden Wendung in der Arztserie gerechnet? Hatte gestern noch der angesehene Herzchirurg alle Sympathien des Publikums, weil er so ritterlich der jungen Witwe seines an Infarkt verstorbenen Patienten einen Heiratsantrag gemacht hat, da stellt sich doch heute heraus, dass er bereits mit zwei Frauen verheiratet ist!

Höfliche Kairoer telefonieren niemals zwischen 19 und 22 Uhr

Das Kulturprogramm Nilesat widmet sich ähnlichen Themen. In Videoclips wird den Zuschauern mit dem neusten Hit auch die Story aus dem Privatleben berühmter Schlagersänger präsentiert. Mohammad Fuad singt von der wahren Liebe, der Zuneigung zwischen Vater und Sohn, die durch Scheidungswirren schwere Erschütterungen erfährt. Der Künstler lebt tatsächlich in Scheidung, und der kleine Junge, der mit seinem Verlangen nach Harmonie es schließlich schafft, die Familie wieder zusammenzuführen, wird authentisch vom Sohn des Sängers gespielt. Da kann man nur hoffen, dass die Realität für die zerrüttete Künstlerfamilie auch ein Happy End bereit hält. Was das Clip betrifft, ergeben sich zahlreiche Fragen: Steht hinter der bewegenden Geschichte eine gesellschaftskritische Aussage? Ein warnender Fingerzeig auf jüngste Entwicklungen, der Einführung eines neuen Scheidungsrechtes und Familiengerichten? Reichlich Diskussionsstoff für Zusammenkünfte in den späteren Abendstunden.

Über das Telefon wird vereinbart, wer wen wann besucht und wo man sich trifft. Die Begegnungen getrennt wohnender, aber viel Zeit miteinander verbringender Großfamilien finden meistens im privaten Rahmen zu Hause statt, während Arbeitskollegen, Kommilitonen und Freunde sich in den Restaurants und Nachtclubs, den Einkaufs- und Sportzentren oder - unter Männern - auf eine Wasserpfeife im Teehaus um die Ecke verabreden.

Amir hasst nichts so sehr, wie zum Gehen aufgefordert zu werden, so dass er die Tagesstätte für obdachlose Kinder bereits vor 20 Uhr verlassen hat, bevor diese die Tore schließt und ihre "Gäste" zurück auf die Straße schickt. In den ruhigen Abendstunden streift er sogar gerne durch die Stadt, denn dann hört er seltener, dass er verschwinden soll, und muss nicht mit so vielen Polizeikontrollen rechnen. In der Altstadt kennt er ein Cafe, den Treffpunkt einer Gruppe von Sufis. Hier bietet man ihm zuweilen sogar kostenlos Tee an und erlaubt ihm, mit den Gästen fernzusehen. Dort und unter den Brücken trifft er auf andere Schicksalsgenossen, deren Zahl offiziell auf über 100.000 geschätzt wird und die nicht selten bereits im Alter von fünf, sechs Jahren zu arbeiten begonnen haben.

Die jugendlichen Obdachlosen sind größtenteils Scheidungsopfer oder entstammen nichtehelichen Beziehungen. Sie schlagen sich mit Bettelei, Drogen- und Alkoholhandel durch oder schuften auf Baustellen, in Auto- und Töpferwerkstätten für durchschnittlich umgerechnet 15 DM in der Woche. Davon müssen nicht selten auch noch die jüngeren Geschwister durchgebracht werden.

Wenn die obdachlosen Mädchen erst einmal 12 oder 13 Jahre alt sind, ist die Straße für sie kein sicherer Ort mehr. Dann haben die meisten den schönsten Teil ihres Lebens hinter sich. Entweder werden sie von der Polizei eingesammelt, oder sie wenden sich selbst an die Moscheen, wo der zuständige Scheikh die jungen Mädchen an meist mittelständische Haushalte vermittelt. Dort lernen sie zu kochen, zu waschen und zu putzen und nicht selten auch den Gelüsten des Hausherrn oder der heranwachsenden Söhne zur Verfügung zu stehen. Ihr Honorar geht an die Moscheen, wo es entweder für wohltätige Zwecke verwendet oder an einen männlichen Verwandten der Mädchen ausgezahlt wird; an den Bruder, der einmal im Monat vorbeischaut, oder die vom Scheikh ausgekundschafteten Eltern, die sich unter diesen Umständen wieder gerne an die verlorene Tochter erinnern.

Je zeitiger der Abend, um so jünger die auf und ab promenierenden Frauen

Kasinos und Nachtclubs öffnen selten vor Mitternacht, aber je zeitiger der Abend, um so jünger die auf und ab promenierenden Frauen in der Pyramidenstraße. Fast alle tragen das Haar hochtoupiert, darüber ein Kopftuch, dezente Kleidung, hohe Schuhe, sorgfältiges Makeup und Maniküre - auffallend gepflegte, elegante Erscheinungen. Erkennungszeichen sind ein für arabische Verhältnisse den Männern gegenüber zu offener Blick und eine Plastiktüte, statt Handtasche. Viele sind noch Kinder, 13 und 14-Jährige, und wer ihnen schlecht gesinnt ist, kann sie wegen des illegalen Charakters ihrer Arbeit für den Rest des Lebens hinter Gitter bringen.

Eltern, die mit den Körpern ihrer Töchter Geld verdienen wollen, bevorzugen daher die islamisch legitimierte Methode der Prostitution. Vor allem mit Touristen aus den erdölexportierenden Nachbarländern werden Ehen auf Zeit - sogenannte mut'a-Verträge - geschlossen. Das Geschäft läuft am besten in den Sommermonaten, wenn erfahrungssuchende Junggesellen vor der Gluthitze ihrer Heimat fliehen und in Kairo - nicht selten von ihren Eltern finanziert - Erholung und Zerstreuung suchen. Je nach Vereinbarung werden die Mädchen dann für eine Stunde, eine Woche, einen Monat, ein Jahr oder ein Leben lang verheiratet. Alles von einem religiösen Würdenträger abgesegnet, der oftmals ein Auge zudrückt, falls mit der Geburtsurkunde des Mädchens geschummelt werden muss, um die Klausel des gesetzlich festgelegten Heiratsalter von 16 Jahren zu umgehen. Zum Beginn des Herbstes sind dann die gynäkologischen Abteilungen der Krankenhäuser überlaufen, wo Fachärzte es sich teuer bezahlen lassen, die Mädchen für den nächsten Sommer wieder herzustellen.

Ab 22 Uhr steigen die Taxipreise um bis zu 200 Prozent

Ab 22 Uhr steigen die Taxipreise, an einem Donnerstagabend, zum Beginn des arabischen Wochenendes, um bis zu 200 Prozent. Wer keine allzu weiten Distanzen zurückzulegen hat, erreicht sein Ziel zu Fuß sowieso schneller. Am Wochenende wirkt Ägyptens Metropole wie ein riesiges Straßenfest, kaum jemand bleibt zu Hause, alle Geschäfte sind geöffnet, und die fliegenden Händler und Bettler haben großzügige Einnahmen zu verzeichnen. An der "Corniche an-Nil" werden flanierenden Liebespaaren stark duftende Rosen zum Kauf angeboten, gehen russische Bauchtänzerinnen und jugoslawische Salonorchester an Bord. Dort legen Gourmetköche letzte Hand an imposante Büfetts, die nächtlichen Flussfahrten auf dem Luxusliner "Pascha" sind so gut wie immer ausgebucht.

Aber der Nil bietet auch für jene Vergnügen und Unterhaltung, die nicht der Oberklasse angehören. Familien mieten Ruderboote, bringen Musikinstrumente oder Kassettenrekorder und reich gefüllte Picknickkörbe mit. Nur die traditionellen Felluka-Segelboote kommen in dieser Nacht kaum vorwärts, denn eine von der Sonnenhitze des Tages aufgeladene Windstille lastet schwer über der Smog-bewölkten Stadt.

Er kennt jede ihrer seelischen Regungen, sie noch nicht einmal seinen Namen

Rania bereitet sich auf die Abiturprüfung vor, ihre Brüder sind ausgegangen, der Vater schläft noch, und die Mutter hat Besuch von der Nachbarin. Rania hat vorsichtshalber schon angekündigt, dass sie noch einen Anruf von ihrer Freundin erwartet, mit der sie noch einmal die Prüfungsthemen repetieren möchte. Die Mutter bemerkt die Nervosität ihrer Tochter und fragt sich, warum diese, statt zu warten, nicht von sich aus anruft. Elf Uhr hatte er gesagt, und jetzt war es schon über eine Stunde nach der vereinbarten Zeit. Dann endlich das erlösende und sie gleichzeitig in Spannung versetzende Klingeln. Sie zieht sich gleich mit dem Telefon in ihr Zimmer zurück. "Ya habibti, ya ruhi, - meine Geliebte, meine Seele, wonach schlägt Dir Dein Herz an diesem sehnsüchtigen Abend ?". So geht es schon seit vier Monaten. Er kennt jede ihrer seelischen Regungen und weiß über alle Details ihres Alltags Bescheid, während ihr noch nicht einmal sein Name bekannt ist.

Anonyme Telefon-Amouren sind zum festen Bestandteil im Leben einer Kairoer Jugend geworden, die in geschlechtergetrennten Schulen und in einem von traditionellen und religiösen Restriktionen geprägten Alltag aufwächst. Fünfzehnjährige konkurrieren mit den Kameraden um die Anzahl ihrer "Beziehungen". Deren Grundmuster ist es, der Angebeteten so nahe wie möglich zu kommen, das heißt, sie zu beschatten, ohne sich jemals selbst erkennen zu geben. Rania fürchtet tatsächlich, ihr Herz könnte sich überschlagen, während sie darum ringt, Fassung und Anstand zu wahren und von ihren Prüfungen spricht.

Ob dreietagig oder dreißigstöckig, ob Jugendstilvilla oder Wolkenkratzer, der Charakter eines Hauses wird von seinem Buwab geprägt. Concierge, Hauswart, Wachposten - alle Übersetzungen sind unzureichend und können die eigentliche Funktion der wichtigsten Institution eines Kairoer Hauses nur ungefähr umschreiben. Wer "seinem" Buwab außer dem gewerkschaftlich fixierten Mindestlohn von zehn Pfund pro Haushalt keine weiteren Aufmerksamkeiten zukommen lässt, wird seines Lebens nicht froh.

Über das Netz der Buwab laufen sämtliche Außenkontakte. Mit dem Buwab steht und fällt der persönliche Ruf der Bewohner im Viertel und oft darüber hinaus. Eine Frau in der Fremde, ohne Vater, Bruder oder Ehemann zur Seite, hat grundsätzlich eine fragile Reputation und ist in dieser schwachen Position auf den Buwab geradezu angewiesen. Diesen selten um etwas bitten, niemals über den Dreck im Hausflur klagen, ihn freiwillig über die wesentlichen Ereignisse im persönlichen Leben auf dem Laufenden zu halten, im Gegenzug seinen Analysen der intimsten Angelegenheiten der Nachbarn Aufmerksamkeit zu schenken, kurz: in den Buwab zu investieren, kann sich nur lohnen.

Er wird nichts mehr gegen Besuch von Kollegen oder Freunden haben, auch wenn es nicht alles Frauen sind. Er wird ihnen nicht erzählen, die Ausländerin sei verreist oder verzogen, und der Aufzug zu ihrer Wohnung im zehnten Stock wird nicht stecken bleiben, kontinuierliche Strom- und Wasserversorgung sind gewährleistet, und die Sittenpolizei schaut auch nicht mehr vorbei. Er ist durchaus in der Lage, traditionelle Bedenken, zum Beispiel dass bei nicht miteinander verwandten oder verheirateten Männern und Frauen, die sich in geschlossenen Wohnungen aufhalten, immer auch der Teufel anwesend sei, großzügig beiseite zu schieben. Natürlich registriert er die dick in Zeitungspapier gewickelten Päckchen, Mitbringsel aus dem Duty Free Shop oder dem koptischen Viertel, aber über all dies spricht er nicht; zumindest nicht in Gegenwart der Nachbarn, sondern erst, wenn man ihm den Rücken zugekehrt hat. Und er tut vieles, was einem ans Herz geht. Zum Beispiel heimlich um ein Uhr morgens, kurz bevor die Stadtreinigung kommt, die leeren Weinflaschen aus dem Müll fischt und zertrümmert, damit niemand Anhaltspunkte hat, die Ehre der Bewohner "seines" Hauses in Frage zu stellen.

Ab zwei Uhr wird es im "Fridays" richtig voll. Bis jetzt wurde in dem zur Diskothek umfunktionierten Hausboot eine bizarre Mischung aus House, Funk und ägyptischem Pop gespielt. Aber erst Latino-Klänge füllen die Tanzfläche. Dann wird Salsa, Samba und selbst Tango formvollendet getanzt. Lou Begas Mambo Number Five ist der Hit, und zwischendurch erfüllt der D.J. auch immer wieder das Verlangen nach Rai, dem bevorzugten Tanzrhythmus des jüngeren Publikums, der sich am besten dazu eignet, der Spannung platonischer Leidenschaften im Tanz Ausdruck zu geben.

Wein wird jetzt auch für Ägypter nicht mehr in Kaffeetassen ausgeschenkt.

In den frühen Morgenstunden verschwimmen an der Bar die staatlich kontrollierten Gesetze, und Wein wird jetzt auch für Ägypter nicht mehr in Kaffeetassen, sondern in Gläsern ausgeschenkt. Getrunken wird reichlich, denn noch immer kühlt kein Windhauch die hitzige Nacht. Die Paare, die sich in die Sitznischen zurückgezogen haben, lehnen sich sehnsuchtsvoll aus den Fenstern, blicken auf den träge strömenden Fluss, umfassen einander fest die heißen Hände.

Auf den struppigen, verstaubten Bäumen am Straßenrand lärmen Vögel und kündigen das Morgengrauen an. In den Hauseingängen schlafen dicht aneinandergedrängt verwahrloste Kinder. Ein Esel mit Aluminiumglöckchen am Geschirr zieht mit Mühen einen müllbeladenen Karren durch die sich allmählich wieder füllenden Straßen. Aus den umliegenden Dörfern und Vorstadtsiedlungen werden Gemüse, Büffelmilch und in enge Käfige gesperrte Hühner angeliefert. Meterhoch stapelt sich in den Bäckereien das frischgebackene Brot, am Horizont färbt ein violetter Streifen den Himmel hell, und dann begegnen sich zu fadjr, dem ersten Gebetsruf des Tages, die Nachtschwärmer auf ihrem Weg nach Hause und die Gläubigen auf ihrem Weg zu Gott.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden