Einheit sechs auf der Folterskala

DIE ABSCHIEBUNG DER SUDANESIN ALICE B. Nigeria ist der einzige afrikanische Staat, der die Ausgesetzten aufnimmt

27. 2. 99; 12.50 Uhr. BGS-Sicherheitstrakt Berlin Schönefeld:

Zwei Beamte des Bundesgrenzschutzes haben eine junge Frau mit sechs Fesseln an eine Holzbank gekettet, Klammern aus Stahl, die ihre Fußgelenke umschließen und sie durch eine Plastikfessel mit der Holzbank verbinden. Die Hände sind unterhalb der Oberschenkel zusammengeschlossen, Fuß- und Handfesseln mit weiteren Hartplastikverbindungen gesichert. Zusammengeschnürt wie ein Paket und zur Bewegungslosigkeit gezwungen, soll Alice B. (Name von der Redaktion geändert) die letzte Stunde ihres 14-monatigen Deutschlandaufenthaltes verbringen, von dem sie die meiste Zeit hinter Gittern in Abschiebehaft saß. Dieser Tag, an dem die Zellentüren ironischerweise weit geöffnet sind, ist nicht für ihre Freiheit, sondern für ihre Abschiebung nach Nigeria vorgesehen. Jede Viertelstunde kommen Beamte herein, überprüfen den korrekten Sitz der Fesseln, doch niemand richtet das Wort an sie, erklärt, was mit ihr geschehen wird, wie lange sie diesen Zustand noch ertragen muss ...

"Wir wussten nicht, auf welchem Weg sie nach Deutschland kam, von wo aus und vor welchen Drangsalierungen sie hier Zuflucht suchte, aber wir erkannten, dass sie panische Angst davor hatte, zurückkehren zu müssen", berichtet Anette Weinke von der Initiative gegen Abschiebehaft: "Alice gab einem das Gefühl, es sei nur ein Zufall, dass sie ausgerechnet auf diesem Fleck der Erde gestrandet sei, als habe sie noch gar nicht realisiert, wo sie sich befindet" ... Anette Weinke war für Alice B. über all die Monate, die sie in der Abschiebehaft verbrachte, einer der raren Kontakte zur Außenwelt. Ihre Gespräche fanden in den düsteren Besuchskabinen, getrennt durch Glasscheiben, reglementiert durch zugewiesene Zeit von weniger als dreißig Minuten, gestört durch die lärmenden Aktivitäten des Wachpersonals und der in verschiedenen Sprachen geführten Unterhaltungen in den Nachbarkabinen statt. Die Heimat der 19-jährigen war selten ein Thema, sie erinnerte sich ungern und erzählte wenig darüber. In ihrem Asylantrag hatte sie angegeben, als Waisenkind in einem Dorf im Sudan im Umfeld einer missionarischen Gemeinschaft aufgewachsen zu sein. Wenn Anette Weinke ihren kleinen Sohn zu den Besuchen mitbrachte, freute sich Alice B., sie vertraute ihr an, dass sie in Afrika schwanger gewesen war, aber kurz vor ihrer Flucht das Kind verloren hatte. Sie sei direkt vom Krankenhaus, in dem sie sich anschließend einer Operation zu unterziehen hatte, auf das Schiff getragen worden, dass sie aus der Heimat wegbrachte. Die Fluchthelfer hatten ihr geraten, sich nicht mit Gepäck zu belasten. Alice B. nahm sich diese Ratschläge zu Herzen. Wenige Tage nach Weihnachten 1997 erreichte sie Deutschland. Sie hatte sich von ihrem Pass und darüber hinaus von ihrer Vergangenheit getrennt.

Im Februar vergangenen Jahres führte das Hauptzollamt in den eleganten Verkaufsräumen von Peek und Cloppenburg am Tauentzien eine Kontrolle des Reinigungspersonals durch. Alice B. konnte weder eine Arbeits-, noch eine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen. Sie wird der Berliner Ausländerbehörde übergeben, die sofort einen Haftantrag zur Vorbereitung der Ausreise beantragt. Noch am selben Abend wird sie in den Abschiebegewahrsam überführt. Von dort aus stellt sie einen Asylantrag. Am 6. März wird ihr Asylbegehren vom Bundesamt als ›offensichtlich unbegründet‹ abgelehnt. Damit ist Alice B. zur Ausreise verpflichtet. Doch selbst wenn sie bereit gewesen wäre, dieser Verpflichtung nachzukommen, ohne Papiere ließen die sudanesischen Behörden sie nicht einreisen. Die Ausländerbehörde veranlasst eine Vorführung vor der sudanesischen Botschaft in Bonn. In ihrem Asylantrag hatte sie um Schutz vor politischer Verfolgung gebeten, nun wurde sie in Begleitung der Grenzschutzdirektion Vertretern der Regierung vorgeführt, vor deren Verfolgung sie in Deutschland vergeblich um Asyl gebeten hatte. Erwartungsgemäß verlief das Gespräch wenig kooperativ. Der Botschafter weigerte sich, Frau James als sudanesische Staatsangehörige anzuerkennen. Die Ausländerbehörde Berlin stellte einen Antrag auf Haftverlängerung.

27. 2. 99; 14.00 Uhr. Flughafen Schönefeld:

Siebzig Minuten waren in den Gewahrsamsräumen des Bundesgrenzschutzes bereits vergangen, als zwei Beamte erschienen, die das Verbindungsstück, dass sie an die Holzbank kettete, lösten und sie aufforderten, sich auf eine Holzstange zu setzen, die ihr zwischen die zusammengebundenen Unterarme und Oberschenkel geschoben wird. Mit der einen Hand tragen die Männer die Stange mit der anderen stützen sie die Gefesselte und balancieren auf diese Art ihre Last zum Transportfahrzeug, das sie in eine Maschine der Tarom bringt.

In Reihe zehn und elf haben bereits vier BGS-Beamte Platz genommen, die Alice B. auf ihren Flug nach Lagos begleiten sollen. Sie plazieren die unter Tränen Schreiende, schnallen ihr den Sicherheitsgurt um, kontrollieren wiederholt den Sitz der Fesseln an Hand- und Fußgelenken und verstauen ihr weniges Gepäck, dass ihnen von den Kollegen in einem blauen Müllsack übergeben wird.

Nachdem das sudanesische Konsulat sich geweigert hatte, Alice B. als Staatsbürgerin anzuerkennen, verbrachte die Ausländerbehörde über ein Jahr damit, sie den verschiedenen afrikanischen Konsulaten von Ghana, Kamerun und schließlich Nigeria vorzuführen. Letzteres erklärte sich schließlich im Juli 1998 bereit, Alice B. ein für die Einreise bestimmtes Passersatzpapier auszustellen. Ihre Abschiebung wurde für den 10. 12. 1998 angesetzt. Ein Sammeltransport sollte zusammengestellt werden, der rund vierzig Ausreisepflichtige aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern, allesamt mit nigerianischen Ersatzpapieren ausgestattet, in Nigeria aussetzen wird. Alice B. kam nur bis Düsseldorf. Dort stellte die Fluggesellschaft fest, dass die nigerianischen Papiere vom Juli 1998 bereits abgelaufen waren. So entging sie dem ersten Abschiebeversuch. Später wird die Ausländerbehörde, die das Überschreiten der Fristen übersehen oder aber bewusst geplant hatte, eine Sudanesin mit ungültigen Papieren nach Nigeria abzuschieben, in den Haftverlängerungsanträgen behaupten, der erste Abschiebeversuch wäre am Widerstand der Alice B. gescheitert.

27. 2. 99; 14.15 Uhr. An Bord der Tarom:

In wenigen Minuten werden die regulären Fluggäste an Bord erwartet. Alice B. hört nicht auf zu weinen, so verzweifelt und laut, dass ein Vertreter der Fluggesellschaft die BGS-Beamten bittet, mit ihrem "Schützling" doch besser die Plätze in der letzten Reihe der Maschine einzunehmen. Zwei Beamte schleppen Frau B., die sich in ihrem gefesselten Zustand zu wehren versucht, in die letzte Reihe. Die Männer müssen erhebliche Kraft aufwenden und sie neben ihrer Kollegin in den Sitz drücken, um sie mit dem Sicherheitsgurt festzuschnallen. Alice B. stößt mit dem Kopf gegen die Beamtin, diese versucht, sie mit einem beim BGS üblichen "Festhaltegriff" zur Räson zu bringen. Dabei soll mit dem kleinen Finger ein Nervenpunkt unter der Nase fixiert werden, während die übrigen Finger und die Mittelhand die Augen zudecken und mit Hilfe der anderen Hand der Kopf nach hinten gedrückt wird. Die Bundesgrenzschutzinspektion gibt später im Ermittlungsbericht an, dass dieser Griff bei afrikanischen Staatsbürgern seine Wirkung verfehlen könne, weil diese über eine ausgeprägte Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen verfügten, wahrscheinlich ist aber Alice B. in ihrer Panik einfach nur schnell genug und beißt in die Hand der Beamtin. Diese schlägt ihr mit der freien Hand ins Gesicht, die Kollegen reißen Frau James Kopf zurück und drücken ihr die Strickjacke der Beamtin ins Gesicht. Der Kapitän und die Crew, die diese Szene aus nächster Nähe verfolgen, entscheiden spontan, sich unter diesen Umständen nicht an der Abschiebung zu beteiligen und erwirken über den Vertreter der Luftfahrtgesellschaft, dass der BGS die Maschine zu verlassen hat.

Rechtanswältin Imke Juretzka lernt Alice B. eine Woche nach diesem zweiten Abschiebeversuch kennen. Die Initiative gegen Abschiebehaft hatte ihr diesen Fall angetragen, den die Anwältin nur zögernd annimmt, weil ihr die beschränkten Möglichkeiten bewusst waren, zu diesem Zeitpunkt noch etwas auszurichten. Doch nach ihrem ersten Besuch bei Alice B., die ihr, zerschunden an Körper und Seele, mit offenen Wunden an den Hand- und Fußgelenken und übersät mit Hämatomen, wie unter Schock wieder und wieder in gebrochenem Englisch die Vorkommnisse am Flughafen demonstriert, gibt es für sie keinen Zweifel mehr, sich gegen das Unrecht, das ihrer Mandantin widerfahren ist, wehren zu müssen. Sie beschließt, strafrechtliche Schritte gegen alle beteiligten BGS Beamten einzuleiten. Um die Verletzungen zu dokumentieren, beantragt sie, bei ihrem nächsten Besuch von einer Ärztin begleitet zu werden. Der Antrag wird abgelehnt.

27. 2. 99; 14.30 Uhr. Flughafengelände Berlin-Schönefeld :

Zum Verlassen des Flugzeuges werden Alice B. die Fußfesseln abgenommen und ihre Hände auf dem Rücken gefesselt. Niemand erklärt ihr, dass die Abschiebung vorerst ausgesetzt ist und wohin die Fahrt mit dem Transporter führen wird. Sie hat Angst, auszusteigen. Es kommt zu weiteren Auseinandersetzungen, bei denen einer der Beamten den Schlagstock einsetzt, um sie zu zwingen, das Fahrzeug zu verlassen. Alice B. wird erneut in den Gewahrsamsraum gebracht, wo ihre Füße wieder mit Stahlfesseln an die Holzbank gekettet werden. Diesmal bleiben die Hände auf dem Rücken gefesselt und werden nicht mit den Beinen verbunden, so dass sie zumindest aufrecht sitzen kann. Eineinhalb Stunden vergehen, bis sie in die Abschiebehaft zurückgebracht wird. Dort kommt sie in solch einem desolaten Zustand an, dass der diensthabende Wachleiter in ihrem Namen eine Strafanzeige wegen "Gefährlicher Körperverletzung im Amt" gegen die BGS-Kollegen einreicht.

Kann man das, was Alice B. widerfahren ist, als Folter bezeichnen? Anwältin Juretzka bittet das Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin um Stellungnahme. Artikel 3 der UN-Antifolterkonvention verbietet Folter, ohne genau zu definieren, was Folter bestimmt. Das Zentrum behilft sich daher bei der Beurteilung mit einer Skala von 0 bis 10, in der staatliche Zwangsmaßnahmen auf einer internationalen Ebene bewertet werden. Die ersten vier Einheiten umfassen noch zu billigende zwangsverursachende Vollzugsmaßnahmen. Die letzten vier Einheiten definieren Misshandlungen durch staatliche Instanzen als Folter. Der Fall Alice B. wird vom Institut auf der Skala mit der Einheit 6 eingeordnet, dem oberen Bereich der interpreta tionsbedürftigen Grauzone zwischen zulässigen Maßnahmen und Folter. Die medizinischen Gutachter merken jedoch an, dass neben der Bewertung in Einheiten von Gewalt, der wesentliche Faktor nicht mehr berücksichtigt werden konnte: die seelischen Folgen der Schmerzen von Alice B., die zum Zeitpunkt des Gutachtens schon abgeschoben war.

Ärzte und Psychologen des Zentrums sind sich einig, dass die Maßnahmen über den Charakter von Nebenwirkungen, die gesetzlichen Zwängen anhaften können, weit hinausgehen. Sie äußern Zweifel an der Fähigkeit der eingesetzten Beamten und kritisieren die Unverhältnismäßigkeit der Mittel, um deeskalierende Maßnahmen adäquat durchzusetzen.

Der nächste Abschiebetermin wird 14 Tage später angesetzt. Anwältin Juretzka stellt vor der Ausländerbehörde einen Antrag auf Aussetzung der Abschiebung und Erteilung einer Duldung. Die Ausländerbehörde lehnt den Antrag mit der Begründung ab, dass Voraussetzung für eine Duldung nur dringende humanitäre oder persönliche Gründe sein können, die im Fall B. nicht gegeben seien. Einen Tag vor der Abschiebung stellt Imke Juretzka an das Verwaltungsgericht einen Eilantrag auf Untersagung der Abschiebung zwecks Beweissicherung im Strafverfahren gegen die Beamten. Zwar erhält sie die lang erkämpfte Genehmigung, ihre Mandantin vor der Abschiebung von einem Arzt untersuchen zu lassen, findet aber in den frühen Morgenstunden eines Sonnabends keinen Arzt, und der Abschiebetermin steht unüberwindbar fest.

13. 3. 99; 10.30 Uhr. Sicherheitstrakt des BGS. Flughafen Berlin-Schönefeld:

Es ist noch dunkel, als sie Alice B. in den Morgenstunden abholen. Als ihre Anwältin am selben Morgen die Genehmigung erhält, sie einem Arzt vorstellen zu dürfen, reicht die Zeit nicht. Imke Juretzka bittet um die Unterstützung des Flughafensozialdienstes, wenigstens durch Photos Spuren der inzwischen 14-Tage alten Wunden festzuhalten.

Sozialarbeiterin Christina Salinger trifft Alice B. schlafend in ihrer Zelle an. Anwältin Juretzka formuliert die Vermutung, dass ihrer Mandantin gegen ihren Willen Beruhigungsmittel verabreicht wurden, anders kann sie sich die Somnolenz ihrer Mandantin, die zu jedem anderen Zeitpunkt panisch auf ihre bevorstehende Abschiebung reagierte, nicht erklären. Frau Salinger hat große Mühe, Alice B. wachzubekommen. Diese schildert ihr unter Tränen ihre Angst, ohne Geld in einem unbekannten Land, wo sie niemanden kenne, ausgesetzt zu werden. Wenig später fordern zwei BGS-Beamte Frau B. auf, ihnen zu folgen. Ohne Fesseln, ohne Balanceakt auf einem Stock und ohne Sicherheitsgriff gelingt ihnen an diesem Tag die Abschiebung der Sudanesin nach Nigeria. Seitdem fehlt von Alice B., die versprochen hatte, sich auf jeden Fall nach ihrer Ankunft bei ihrer Anwältin zu melden, jegliche Spur.

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