Atatürk am Berghang

TÜRKEI Zwei Funktionäre der HADEP wollten eine Ortsgruppe dieser legalen kurdischen Partei aufbauen - und sind seitdem verschwunden

Schluss mit Armut und Ausweglosigkeit!" - Fast trotzig wirken die frischen Plakate der Emegin Partisi, der kurdischen Partei der Arbeit, an Diyarbakirs Stromkästen. Wir fragen uns zum Gebäude der Demokratischen Partei des Volkes (HADEP) durch. Aus den engen Straßen um die Stadtmauer dringt kurdische Musik, vor zehn Jahren noch undenkbar. Drinnen erzählt uns Mefahir Altindag von den Schwierigkeiten: Aus den letzten Kommunalwahlen ist die HADEP in Südost-Anatolien als stärkste Partei hervorgegangen, in Diyarbakir stellt sie den Bürgermeister. Doch dann drehte Ankara den Geldhahn zu, was sich vor allem auf die Sozialleistungen auswirkte. Für Altindag ist klar, was die Regierung damit bezweckt. Aber er hat Vertrauen in seine Wähler: "Unser Volk weiß, dass dies alles nur Taktik ist, die uns diffamieren soll."

Wir fragen ihn, wie unsere Chancen sind, nach Silopi durchzukommen, dorthin, wo Ende Januar die zwei HADEP-Funktionäre Serdar Tanis und Ebubekir Deniz verschwunden sind. Altindag zieht die Augenbrauen hoch. "Silopi? Ausländische Journalisten sind dort nicht gern gesehen, aber versuchen Sie es." Er zieht sein Handy aus dem Jackett und gibt mir die Nummer seines Kollegen, der gerade in Silopi ist und den Kreis jetzt betreut. Dicle Anter erwartet uns. Selbstverständlich könnten wir mit der Familie eines der Verschwundenen reden, je mehr Journalisten kämen, desto besser. Auf der Busfahrt bis nach Cizre gibt es keine Probleme, niemand fragt, was wir dort wollen. Die letzten 32 Kilometer bis Silopi geht es per Taxi weiter durch das kurdische Bergland, vorbei an kaputten, verlassenen Häusern und den mit Steinen an die Hänge geschriebenen Bekenntnissen zur türkischen Republik: "Wie glücklich, wer sagen kann, ich bin Türke." Das stammt von Atatürk und gehört zu den absoluten Favoriten der Berginschriften.

Nach ungefähr 20 Kilometern kommt eine Militärkontrolle: Der Fahrer muss seine Papiere zeigen, wir unsere Ausweise. Was wir in Silopi wollten, fragt der etwa 17-jährige Soldat und kauft uns das touristische Interesse an dem Städtchen nahe der irakischen Grenze ab.

Mauern des Schweigens

Von Mefahir Altindag wissen wir, dass die meisten Einwohner Silopis der HADEP nahe stehen. Überall in den östlichen Provinzen der Türkei gibt es Ortsgruppen der Partei, aber ausgerechnet hier will der Staat einen weiteren Aufbau verhindern. Dazu benutzt er auch Methoden, die lange nicht mehr angewandt wurden. Genau wie in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen lassen paramilitärische Einheiten Menschen einfach verschwinden. Sie behaupten, die Person niemals festgenommen zu haben. Für die Angehörigen ist das reiner Terror. Sie wissen, dass der Sohn, die Ehefrau oder der beste Freund irgendwo festgenommen wurden, aber sie stoßen auf eine Mauer aus Schweigen und auf anonymen Telefonterror.

Im örtlichen HADEP-Büro treffen wir Dicle Anter. Ein schlanker Mann Mitte 40, mit grauem Vollbart und lachendem Gesicht. Nach ungefähr drei Minuten tauchen zwei Polizeibeamte in Zivil auf. Unser Gastgeber bietet Tee an. Ob sie unsere Ausweise sehen dürften und wir eine Genehmigung für das Ausnahmezustandsgebiet hätten. Wenn nicht, müssten wir erst mal mit zum Gouverneur. Dicle Anter verhandelt in scherzhaftem Ton. Nun gut, kein Gouverneur. Ob wir etwas zum Aufnehmen dabei hätten, Fotoapparat, Kamera? Nein? Sehr gut. Selbstverständlich dürften wir zur Familie Tanis, sie würden uns hinbringen. Nein, keine Widerrede, sie helfen doch gern und natürlich in ihrem Polizeiauto. Wir ziehen Herrn Anter beiseite und flüstern, dass die Familie auf keinen Fall in Schwierigkeiten gebracht werden dürfe. "Nein", sagt er, "gehen Sie, es ist gut so."

Drohungen am Telefon

Das Haus von Serdar Tanis´ Familie liegt am Ende von Silopi, im Innenhof scharren ein paar Hühner. Eine junge Frau empfängt uns mit Wangenkuss an der Türschwelle. "Vielen Dank", sagt sie ganz ohne ironischen Tonfall in der Stimme. Wir nehmen in einem großen Raum auf dem Boden Platz. Die Polizisten fühlen sich hier offensichtlich zu Hause, nehmen Sitzkissen vom großen Stapel an der Wand und bieten Zigaretten an. Zwei ältere Männer betreten den Raum und begrüßen uns. "Wie geht es Ihnen?" fragt ein Polizist die übliche Begrüßungsformel. Der alte Mann antwortet nicht. Dann erscheint Sedars Vater und beginnt zu erzählen. Er dankt ausdrücklich allen, die gekommen sind, heißt uns herzlich willkommen. Sein Sohn wollte eine Ortsgruppe der HADEP in Silopi aufbauen, deshalb habe es öfter Kontakt mit der Polizei gegeben. Er versteht nicht, weshalb man so versessen darauf sei, den Aufbau einer legalen Organisation zu verhindern. In allen Provinzen gebe es Vertretungen, nur hier in Silopi nicht. "Wenn die Partei wenigstens verboten wäre, würde das alles einen Sinn machen, aber so..."

Als sein Sohn aus dem Irak kam, wurde er zur Gendarmerie-Station von Silopi gerufen. Das sei öfters vorgekommen, aber am 25. Januar sei er nicht mehr zurückgekehrt. Die türkische Tageszeitung Radikal berichtet, Serdar Tanis sei seit einiger Zeit telefonisch bedroht worden, man habe ihn aufgefordert, Tätigkeiten für die HADEP zu unterlassen. Tanis hatte sich deshalb beim türkischen Präsidenten Necdet Sezer per Fax beschwert.

Der Vater fragte bei der Polizei nach seinem Sohn, doch er wurde weggeschickt. Dann erzählt er von seiner Odysee. Er sei in Sirnak und in Mardin, bei der Gendarmerie, beim Landrat und überall gewesen, wo er hoffte, etwas über den Verbleib seines Sohnes und dessen Freund erfahren zu können. Einmal sagte man ihm, man habe PKK-Material bei Serdar gefunden. "Mein Sohn arbeitete für eine legale Partei. Jemand hat ihm das untergeschoben." Er selbst ist noch nicht einmal Mitglied der HADEP. Ein anderes Mal wird behauptet, Tanis und Deniz seien bei der PKK im Irak, aber es gibt Zeugen, die beide jungen Männer auf der Gendarmerie in Silopi gesehen haben. Delegationen der HADEP, des Menschenrechtsvereins und der türkischen Menschenrechtsstiftung - niemand erhielt Auskunft über den Verbleib der beiden.

Schließlich schickte die Regierung in Ankara zwei Inspektoren, die der Sache auf den Grund gehen sollten - ziemlich erfolglos. Jetzt hat Innenminister Tanatan verlauten lassen, es gäbe Anzeichen, dass die beiden lebten. Der Fall hat ganz offensichtlich einige Brisanz. Doch seitdem ein Geheimhaltungsentscheid in Kraft getreten ist, weiß selbst der Anwalt der Verschwundenen nicht, wie weit die Ermittlungen wirklich gediehen sind. "Wir warten, jeden Tag", sagt Sedars Vater. Hoffnung, mehr nicht.

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