Amy Bloom war viele Jahre als Sozialarbeiterin tätig, hatte eine Praxis für Psychotherapie, veröffentlichte 2002 eine Studie über Transsexualität und bezeichnet sich selbst als bisexuell. Das muss man nicht unbedingt wissen, um ihren zweiten Roman Die unglaubliche Reise der Lillian Leyb (im englischen Original: Away) zu verstehen. Aber Blooms Interesse an der literarischen Ausdifferenzierung sexueller Orientierungen, an der Macht der Träume und der Liebe und an der Frage, wie Menschen mit Verlust und Schmerz umgehen, speist sich spürbar aus diesen Erfahrungen. Sie bereichern ihre Prosa, überfrachten sie aber hin und wieder auch.
Der Zeitrahmen der Romanhandlung ist genau datiert: 3. Juli 1924 bis 19. Mai 1926. In diesen knapp zwei Jahren wird ein Bogen gespannt von der Ankunft der jungen Lillian Leyb in New York, ihrem Aufbruch zurück in die Sowjetunion mit dem Ziel Sibirien bis schließlich zu ihrem Verbleib in Kanada.
Die Jüdin Lillian hat im russischen Turov ihre gesamte Familie bei einem Pogrom verloren, dem sie selbst nur knapp entkommen ist. Die Narben, die sie äußerlich und innerlich davonträgt, spielen im Romanverlauf die Rolle von Erkennungszeichen. Der geschundene Körper als Erzähllandschaft. Wenn männliche wie weibliche Finger über Lillians Narben gleiten, verknüpfen sich bei Bloom verletzte Seelen auch ohne Erklärung. Ihre völlig mittellose Protagonistin heuert in New York bei einem jüdischen Theaterbesitzer als Näherin an, lässt sich auf ein sexuelles Verhältnis mit diesem um Jahrzehnte älteren Reuben Burstein ein und ist auch seinem homosexuellen Sohn, dem Schauspieler Meyer Burstein hin und wieder zu Diensten, wobei er nichts mit der Vorderseite der wohlgeformten Frau anfangen kann, wohl aber mit ihrer rückwärtigen Partie. Die russische Immigrantin macht sich also zur willigen Sexgespielin, um überleben zu können. Gleichzeitig aber werden zarte Fäden der Anteilnahme und des Verständnisses füreinander geknüpft. Die jüdische Theaterszene der zwanziger Jahre in New York - eine Schicksalsgemeinschaft. Ihre einzelnen Existenzen sind zerbrechlich. Ihr Witz ist ein Ausdruck von Sehnsüchten und verkapseltem Schmerz.
Überhaupt - der jüdische Witz. Er spielt in diesem Roman eine zentrale, manchmal auch etwas übertriebene Rolle. Die allwissende Erzählinstanz in dieser Geschichte schaltet und waltet wie ein schalkhafter jüdischer "story-teller". Er offenbart nicht nur die tiefsten Träume der Heldin, er verrät auch in kühnen Vorgriffen, wie dieses und jenes Leben, das Lillian Leyb im weiteren Verlauf streift, weiter- und zu Ende geht. Das kann dann schon mal etwas weitschweifig sein und - mit Verlaub - auch ein wenig bieder.
Bloom will mit dieser Konstruktion verschiedene Schicksale verknüpfen, im Grunde genommen zwei Geschichten erzählen oder besser: eine kleine in einer großen. Da ist die kleine jüdische Diaspora und da ist der große amerikanische "melting-pot", der Menschen verschiedener Hautfarbe, verschiedener sexueller Orientierungen anzieht, integriert oder auch wieder davonziehen lässt. Um dies miteinander zu verbinden, ihre Ähnlichkeit in ihrer Verwundbarkeit, ihrer menschlichen Größe, aber auch in ihrer Gerissenheit und kriminellen Energie ausleuchten zu können, schickt Bloom ihre Heldin auf eine gefährliche Reise. Und das ist dann der zweite Teil des Romans.
In New York erfährt Lillian Leyb, dass ihre kleine Tochter offensichtlich das Massaker in Turov überlebt hat und von jüdischen Bekannten nach Sibirien mitgenommen wurde. Angetrieben von dieser Botschaft macht sie sich auf - als schwarzer Passagier in Zügen, mit dem Schiff, zu Fuß oder mit einem Boot durch Kanada bis nach Alaska hinein.
Diese Odyssee ist eng angelehnt an eine angeblich wahre Begebenheit aus den dreißiger Jahren, als eine Frau namens Lillian Alling Russland Richtung New York verließ, um sich von dort aber wieder - weitgehend ohne Hilfsmittel - auf den Weg nach Hause zu machen. Bloom hat diese Geschichte, auch geografisch detailgetreu, als Folie verwendet. Die Stationen dieser strapaziösen, von der Sehnsucht getriebenen Tour de force dienen ihr dazu, immer wieder wechselnde Figuren-Ensemble und -Konstellationen zu schaffen: Lillian trifft auf eine Chinesin in einer Besserungsanstalt für Frauen, auf eine schwarze Prostituierte und ihren Zuhälter. Die eine wie die andere: Flüchtende, Angeschwemmte, Getriebene, die sich erkennen in ihrer Versehrtheit, sich helfen, aber auch wieder abstoßen. Diese Begegnungen sind nicht immer überzeugend geschildert. Szenen sexueller, oft gleichgeschlechtlicher Begierde, sowie eine Bluttat - Lillian und die schwarze Prostituierte erstechen im Handgemenge unbeabsichtigt den Zuhälter - wirken eher störend.
Sehr gelungen dagegen dieses Zarte und Herantastende, wenn schließlich die Liebe sich der rastlos reisenden Frau in den Weg stellt. Wunderbar geschildert auch Lillians Überlebenskampf in den Weiten Kanadas - wie da alles in der Natur sich feindlich gegen sie wendet - das Licht, der Himmel, die Kälte, die Moskitos. In diesen Passagen entwickelt Bloom eine geradezu meisterhaft filigrane, einfühlsame Sprache. Ihr Roman ist eine Parabel auf die Fähigkeit des Menschen Berge zu versetzen, wenn er auf der Suche ist nach dem verlorenen Glück. Nur darf er sich bei dieser Suche nicht umschauen. Ein bekannter Mythos hat hier seine Spuren hinterlassen. Dann nämlich ist Die unglaubliche Reise der Lillian Leyb auf einmal zu Ende.
Amy Bloom Die unglaubliche Reise der Lillian Leyb. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Adelheid Dormagen, Hoffmann und Campe. Hamburg 2008, 316 S., 19,95 EUR
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