Es ist nur ein kurzer Text, fast am Ende seiner Essay-Sammlung Verschollene Kapitel, die der polnische Autor Pawel Huelle dem Dichter und Zeichner Bruno Schulz widmet, aber er enthält einen zentralen Satz, der nicht nur das künstlerische Credo seines Landsmannes zusammenfasst, sondern auch das poetische Selbstverständnis Pawel Huelles in sich birgt. »Er hatte es nicht mehr geschafft«, so ist dort zu lesen, »Anna zu sagen, daß das phantastischste, das ungeheuerlichste, blendendste und gleichzeitig dunkelste Rätsel die Wirklichkeit selbst ist«.
Huelle imaginiert hier die letzten Gedanken des Autors der legendären Zimtläden. Es ist der 19. November 1942. Bruno Schulz denkt an die geliebte Frau, an den Brief, den er ihr vor genau einem Jahr
er ihr vor genau einem Jahr schrieb und an das, was er ihr nicht mehr sagen konnte - über die Kunst, das Leben und die Wirklichkeit. Als Bruno Schulz in Drohobycz die Straße wechselt, wird er von einem Gestapo-Mann, der zufällig seinen Weg kreuzt, erschossen. Könnte sich das wirklich so zugetragen haben? Dachte Bruno Schulz in den letzten Minuten seines Lebens tatsächlich an die verschollene Anna?Traumbilder und phantasmagorische Visionen sind allemal der Wirklichkeit näher als jede Art von Realismus, notierte Schulz. Sie müssen allerdings gesättigt sein von Kenntnissen über die Geschichte, die Literatur und das Leben, wäre im Sinne von Pawel Huelle zu ergänzen. Und nicht anders verfährt der 1957 in Danzig geborene Schriftsteller in seinen Romanen, Erzählungen und Essays. Wie in seinen ersten beiden Büchern, dem Debüt-Roman Weiser Dawidek (deutsch 1990) und dem Erzählungsband Schnecken, Pfützen, Regen und andere Geschichten aus Gdansk (1992), so finden wir auch in der Essay-Sammlung wie in dem neuen Prosa-Band Silberregen. Danziger Erzählungen wieder den phantasiereichen Spurensucher am Werke. Er gräbt sich durch Zeitschichten, um zwischen den Splittern versunkener und zerborstener Welten sein erhellendes Feuerwerk der Imagination zu entzünden.Fast alle Erzählungen in Silberregen sind Erinnerungen an Menschen, die längst tot sind, an ein Danzig und sein pommersches und kaschubisches Umland, das nicht mehr existiert. Einst deutsche Hansestadt, nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Deutschen Reich ausgegliedert und teilweise von Polen verwaltet, schließlich 1939 Nazideutschland einverleibt und 1945 - stark zerstört - wieder Polen zugesprochen und nach und nach restauriert - keine dieser sich überlagernden Epochen kann die jeweils hinter ihr liegende ganz verdecken und verdrängen. Wie in einem Vulkan, der nicht zur Ruhe kommt, steigen immer wieder längst vergessene Ereignisse empor, tauchen einstige Bewohner auf, die hier einmal zu Hause waren.Es sind die kleinen Randnotizen, die eigentlich banalen Episoden, das Einzelschicksal im großen Mahlstrom der Geschichte, die Pawel Huelle aufgreift und literarisch verarbeitet. Bizarre Momentaufnahmen, bei denen Vieles ungeklärt bleibt und geheimnisvoll. In der titelgebenden Erzählung träumt Anusewicz, ein längst pensionierter Puppenspieler, plötzlich von Nina und Pfarrer Wolkonowicz, zwei Gestalten aus seiner Jugend, die während der deutschen Okkupation ums Leben gekommen beziehungsweise seitdem verschollen sind. Der Traum macht ihn unruhig und weckt Vorahnungen auf ein ungewöhnliches Ereignis. Und wirklich: nachdem er wie so oft seine ehemalige Wirkungsstätte, das Puppentheater, aufgesucht hat und diesmal, er weiß nicht warum, den »Sensenmann«, die Spielfigur des Todes, in seine Tasche gepackt hat, klingelt kurz nach seiner Rückkehr ein Mann an seiner Tür, Herr Winterhaus. Der Deutsche offenbart sich als früherer Mieter der Wohnung und will nach einem Münzschatz forschen, den sein Vater hier einst versteckt haben soll. Die Ereignisse überschlagen sich nun, kippen ins Surreale und Grotesk-Komische. Der Schatz wird gefunden. Zwei Polen und der Deutsche - der Schwager von Anusewicz kommt auch noch hinzu - feiern nach bedrohlichen Minuten, in denen man als Leser Mord und Totschlag erwartet, lautstark Verbrüderung. Für eine kurze Zeit streifen sich ihre Schicksale und offenbaren die Ähnlichkeit dessen, was ihnen im Herzen Europas widerfuhr. Dann trennen sich ihre Wege wieder, zu Hause angekommen, fängt der Sensenmann plötzlich zu tanzen an und verwandelt sich in die verschollene Nina, die Anusewicz sanft aus dem Zimmer und damit aus dem Leben führt.Pawel Huelle sagte einmal, er fühle sich von Ruinen magisch angezogen, sie literarisch zu rekonstruieren, die entstandenen Lücken wieder zu füllen, sei seine Passion. Er füllt sie mit überbordender Phantasie, die die scharfen Ränder der historischen Brüche und Verwerfungen umso schmerzhafter hervortreten lässt und die Leser in Bann schlägt. Nicht minder aufregend, interessant, aber auch äußerst streitbar sind seine Essays, in denen er souverän und spielerisch aus der Literatur- und Kulturgeschichte zutage fördert, was in unserer oberflächlichen Zeit seiner Meinung nach unterzugehen droht. Huelle meint damit zum Beispiel die Souveränität des Einzelnen, über sich selbst frei zu entscheiden. Aber auch und besonders die Fähigkeit des Schriftstellers, dem einfachen Leben verbunden zu bleiben, um die Charakteristika seiner Zeit zu erfassen. Eines seiner großen Vorbilder in dieser Hinsicht ist der amerikanische Nobelpriesträger William Faulkner. »Als ihn eine angesehene amerikanische Universität zu einem Vortrag einlud«, so Pawel Huelle, »schrieb er höflich zurück, er könne die Einladung zum vorgeschlagenen Termin leider nicht annehmen, weil er Farmer und die Ernte für ihn wichtiger sei ...«Die heutige tonangebende Literatur, besonders die amerikanische, ist für Huelle »Universitätsliteratur«. Sauber, weich und angenehm wie Klopapier stehe sie außerhalb der Geschichte, außerhalb der Konflikte unserer Zeit. »Ihre Großmutter war die Gegenkultur der sechziger Jahre«, polemisiert der polnische Autor, »von dieser hat sie die Vorliebe fürs Abheben und für vegetarische Ernährung«. - Spätestens hier möchte man dem polnischen Autor nicht mehr so recht folgen. Es ist schlichtweg falsch, die Romane von Philip Roth, den Huelle neben anderen namentlich nennt, als »Universitätsliteratur« zu klassifizieren. Und seine Verehrung für Faulkners Schreiben, dem der Schweiß der Farmerarbeit anhafte, wie auch seine klischeehafte Ablehnung der früheren Protestkultur wie übrigens auch der heutigen Medienkultur haben leider mehr mit borniertem Traditionalismus zu tun als mit aufgeklärtem Zeit- und Geschichtsverständnis. - Trotz dieser Kritik: Pawel Huelles Bücher zu lesen, ist ein Gewinn!Pawel Huelle: Silberregen. Danziger Erzählungen. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2000, 270 S., 38,- DM Pawel Huelle: Verschollene Kapitel. Literarische Feuilletons. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Rospo Verlag, Hamburg 1999, 201 S., 36,- DM
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