Im Herzen der Justizfarce

Prozess Als Julian Assange hereingeführt wird, grüßt er mich mit der erhobenen linken Faust. Ich grüße zurück
Ausgabe 10/2020
Seit Monaten wird er in Isolationshaft gehalten, wie ein Terrorist
Seit Monaten wird er in Isolationshaft gehalten, wie ein Terrorist

Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP/Getty Images

Spätsommer 2012, im Morgengrauen, Julian Assange und ich sitzen in seinem Zimmer in der Londoner Botschaft von Ecuador, ich trage eine Sauerstoffmaske, während er eine große Taucherflasche festhält und mir erklärt, wie ich atmen soll. Als ich ihn für mein Stück Assassinate Assange interviewte, redeten wir die ganze Nacht, ich war müde geworden und er hatte die Idee, mich mit reinem Sauerstoff zu „beleben“. Als er eine von zwei großen Taucherflaschen aus einer Ecke hervorholte, fand ich das bizarr. Er erklärte mir, dass er befürchte, man würde versuchen, ihn gewaltsam aus der Botschaft zu entfernen, ihn etwa mit Gas betäuben und so unauffällig herausschaffen. Griffbereite Taucherflaschen sollten das vereiteln.

Jetzt sitzt Assange in einem Panzerglaskäfig, hört seinem Verteidiger Edward Fitzgerald zu, wie der der Richterin Vanessa Baraitser erklärt, dass Entführungs- und Mordpläne gegen Assange geschmiedet wurden. Beleg dafür ist die Aussage eines anonymen Zeugen, die spanische Sicherheitsfirma UC Global, die in der ecuadorianischen Botschaft angestellt war, habe Assange nonstop überwacht. US-Geheimdienste hätten mit dem Chef der Firma, David Morales, zusammengearbeitet, auch „extremere Maßnahmen“ diskutiert. So sei überlegt worden, Assange „zu kidnappen“, zitiert Fitzgerald den Zeugen. „Sogar die Möglichkeit des Vergiftens wurde besprochen.“ Spätestens da erscheinen mir die Taucherflaschen gar nicht mehr so bizarr.

Nur eine der Monstrositäten in diesem Verfahren, das von vielen zu Recht als politischer Schauprozess bezeichnet wird: Das fängt mit dem Gerichtsgebäude an. Normalerweise befinden sich Gerichte in Innenstädten, um die Öffentlichkeit dazu einzuladen, Zeuge staatlicher Gerechtigkeit zu werden. Der düstere Belmarsh Magistrates Court in Woolwich strahlt das Gegenteil aus, sein grimmiger Bau liegt weit draußen, wie für Terroristen maßgeschneidert. Wer hier landet, soll schnell und unaufwendig abgeurteilt werden, möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Es gibt hier nur 24 Plätze für Journalisten und 16 für die Öffentlichkeit, deshalb war ich bereits im Morgengrauen gekommen. Die italienische Journalistin Stefania Maurizi stand schon am Eingang. Sie hat, als einzige Vertreterin der Presse überhaupt, die Verfahrensdokumente des Assange-Falles aus Schweden (hier ging es um den Vorwurf der Vergewaltigung) angefordert und erhalten. Damit hat sie dem UN-Sonderbeauftragten für Folter, Nils Melzer, genaue Akteneinsicht ermöglicht. Er kam zu dem Schluss, dass Assange nicht nur das Opfer einer Justizfarce ist, sondern auch, dass ein eklatantes Medienversagen vorliegt. Melzers wiederholte Aufforderungen, Assange unverzüglich freizulassen, stoßen bei Großbritannien zwar noch auf taube Ohren, aber immerhin hat er eine Welle des Umdenkens in den Medien ausgelöst.

Ich hatte das Glück, einen der Plätze im Gerichtssaal zu ergattern, viele Journalisten mussten in den Press Annex, einen heruntergekommenen Container, in dem von sechs Monitoren nur vier funktionieren. Der Ton soll so schlecht gewesen sein, dass man der Anhörung kaum folgen konnte.

Als Julian Assange hereingeführt wird, halten alle kurz den Atem an. Zwei Sicherheitsbeamte flankieren ihn, als er in seinem Glaskäfig Platz nimmt. Er sieht blass und mitgenommen aus, dennoch hebt er kämpferisch die linke Faust zur Zuschauertribüne, wo neben Angehörigen und Unterstützern auch die Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen und Heike Hänsel (Die Linke) sitzen. Als er in meine Richtung schaut, erwidere ich seine Geste.

Anklage für die Presse

Dann gibt US-Staatsanwalt James Lewis die Eröffnungserklärung für die Anklage ab. Der längste Teil davon enthält kaum juristische Argumente und ist nicht an die Richterin, sondern an die Presse gerichtet: Dies sei kein politischer, sondern ein Kriminalfall, Medien wie der Guardian, der Spiegel oder die New York Times seien nicht von den Anklagen gegen Assange betroffen. Denn der sei nicht wegen der Aufdeckung von Kriegsverbrechen angeklagt, sondern wegen der Veröffentlichung von Informantennamen und Beihilfe bei Chelsea Mannings Versuch, Regierungscomputer zu hacken. Assange sei ein gewöhnlicher Krimineller, kein Journalist.

Nach kurzer Unterbrechung dann der Höhepunkt des ersten Tages: Die Richterin hakt nach, ob sich die beteiligten Zeitungen nicht doch schuldig gemacht hätten? Lewis hatte nämlich den britischen „Official Secrets Act“ von 1989 zitiert, der das bloße Entgegennehmen und Veröffentlichen eines Regierungsgeheimnisses zur Straftat erklärt. Folglich hätten sich auch die Medien strafbar gemacht, die Assanges Informationen veröffentlichten?

Mit der Frage hat sie Lewis auf dem falschen Fuß erwischt, er scheint verwirrt und erklärt, dass das Gesetz von der Thatcher-Regierung nach dem Fall Ponting erlassen wurde, um das Argument eines „besonderen öffentlichen Interesses“ zu entkräften, wenn Staatsgeheimnisse publik gemacht würden. Der britische Beamte Clive Ponting hatte Lügen entlarvt, die die Thatcher-Regierung 1982 zur Rechtfertigung des Falkland-Krieges in Umlauf gebracht hatte. Und ja, nicht nur die Veröffentlichung selbst, sogar der „bloße Besitz“ von Staatsgeheimnissen stelle eine Straftat dar. Man könnte Assange somit ausliefern, unabhängig davon, ob er Manning tatsächlich Beihilfe geleistet hätte oder nicht. Lewis fügte hinzu, dass alle Medien, die ein „staatliches Geheimnis“ gelüftet hätten, sich ebenfalls einer Straftat schuldig gemacht hätten.

Ich traue meinen Ohren nicht. Hier war sie, ganz unverhohlen, die direkte Bedrohung der Pressefreiheit. Lewis strafte sich selbst Lügen, doch scheint das kaum einem der anwesenden Journalisten aufgefallen zu sein. Noch beunruhigender ist nur die brutale Behandlung Julian Assanges, der seit Monaten in Isolationshaft gehalten wird, wie ein Terrorist. Am ersten Anhörungstag muss er sich zwei Leibesvisitationen unterziehen, nackt, ihm werden elf Mal Handschellen angelegt, seine Unterlagen werden konfisziert. Mehrmals ergreift er das Wort, beklagt, dass er dem Prozess nicht folgen kann, wird aber jedes Mal von der Richterin barsch unterbrochen, er solle sich bitte nur über seine Anwälte äußern. Kafkaesk: Genau das kann er nicht.

Sein Verteidiger Fitzgerald beantragt, dass Assange aus dem Glaskäfig gelassen wird, er sei „ein sanfter Mann von intellektueller Natur, und es gibt keinen Grund, warum er nicht während der Anhörung bei uns sitzen und mit uns kommunizieren sollte“. Selbst der US-Ankläger hat nichts dagegen, trotzdem weist die Richterin den Antrag ab. Die Beobachter sind fassungslos. Selbst Beate Zschäpe durfte ihrem Prozess zusammen mit ihren Anwälten folgen, selbst Kriegsverbrecher aus den Jugoslawienkriegen in Den Haag. Wenn in Europa Kriegsverbrecher besser behandelt werden als einer, der Kriegsverbrechen aufgedeckt hat, dann ist das ein Albtraum.

Im weiteren Verlauf gelingt es den Anwälten, alle Punkte der Anklage zu entkräften. Doch bei mir will sich kein Optimismus einstellen. Juristische Argumente scheinen hier zweitrangig zu sein. Am letzten Abend der Verhandlung treffe ich Assanges Anwältin Jennifer Robinson, die ich seit 2011 kenne. Sie bestätigt mir, dass beide Seiten bereit sind, durch alle Instanzen der britischen Gerichtsbarkeit zu gehen – was drei bis vier Jahre dauern kann.

Wird Julian Assange das unter den jetzigen Haftbedingungen überleben können? Seine Verteidiger haben klargemacht, dass die psychiatrischen Gutachten von einem Suizidrisiko ausgehen, solle er an die USA ausgeliefert werden.

Was bleibt uns, um sein Leben und unsere Pressefreiheit zu retten? Proteste reichen nicht mehr – Assange braucht jetzt die Hilfe aller, die 2010 von seinen Enthüllungen profitiert haben: New York Times, Guardian, El Pais, Le Monde und Spiegel müssen fordern, ihn sofort freizulassen – es bedarf einer großen konzertierten Aktion der mächtigsten Zeitungen der Welt. Denn es geht auch um ihre Freiheit. Free Press! Free Assange!

Angela Richter ist Journalistin, Regisseurin und Gründungsmitglied von DiEM25. 2015 hat sie den Band Supernerds. Gespräche mit Helden herausgegeben (Alexander Verlag)

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