Jagd auf einen Journalisten

Julian Assange Mit neuen Mitteln versuchen Vertreter der US-Regierung, den Wikileaks-Gründer unter Druck zu setzen
Ausgabe 38/2020
Julian Assange drohen in den USA bis zu 175 Jahre Haft
Julian Assange drohen in den USA bis zu 175 Jahre Haft

Foto [M.]: Oli Scarff/Getty Images

Im Oktober 2009 sprach Julian Assange folgende Worte auf der „Hack in the Box Security Conference“ in Malaysia: „Ich war ein bekannter Teenage-Hacker in Australien, und ich lese die E-Mails von Generälen, seit ich 17 bin.“ Zitiert werden sie nun in der neuen, erweiterten Anklage der US-Regierung gegen ihn – es kommt einer kleinen Sensation gleich, dass die Schrift zur Zeit als Leak auf cyptome.org, der Grand Dame unter den Enthüllungsplattformen, zu finden ist, denn eigentlich steht die Anklage der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung. Ebenfalls dort zu finden ist folgender Ausschnitt zu einer Assange-Rede, die er per Video auf der Jahreskonferenz des Chaos Computer Club am 31. Dezember 2013 in Hamburg gehalten hat: „ASSANGE forderte die Zuhörer auf, der CIA beizutreten, um Informationen zu stehlen und Wikileaks zur Verfügung zu stellen, und erklärte: ‚Ich sage nicht, dass ihr nicht der CIA beitreten sollt; nein, geht und tretet der CIA bei. Geht da rein, geht aufs Spielfeld, schnappt euch den Ball und holt ihn raus.‘“

Welche Rolle spielen diese Zitate nun im Auslieferungsprozess gegen Julian Assange? Der Prozess ging kürzlich im Old Bailey, einem Justizkomplex im Zentrum von London, in die zweite Runde, nach monatelanger, pandemiebedingter Pause. Den meisten Beobachtern zufolge ist die erste Runde im Februar an die Verteidigung gegangen, die US-Anklage war dünn und leicht angreifbar; offenbar hat sie das als Problem erkannt und die Pause genutzt, um in kürzester Zeit eine Erweiterung aus dem Ärmel zu ziehen. Assanges Anwälte erklärten, davon „überrannt” worden zu sein, sie hätten kaum Zeit gehabt, sich darauf mit ihrem Klienten vorzubereiten.

Diesmal keine Fotos

Als ich am ersten Tag vor dem Gerichtsgebäude warte, wird Assange in einem weißen Van mit geschwärzten Scheiben vorgefahren. Fotografen springen an die Scheiben, um Fotos vom Inneren zu schießen, was diesmal nicht gelingt. Einer von ihnen sagt mir, er glaube, dass die Scheiben mit Metall verblendet wurden, um das Fotografieren zu unterbinden. Entnervt wendet er sich ab und macht Fotos von den Unterstützern, die hier unermüdlich „Free Julian Assange“ skandieren. Unheimlich ist es, sich vorzustellen, dass Assange die Stunde, die er vom Belmarsh-Hochsicherheitsgefängnis zum Old Bailey gefahren wird, in einer Blackbox verbringt und noch nicht einmal ins Freie schauen kann. Eine weitere Schikane in einem Prozess, bei dem jedes Mittel recht ist, um die Öffentlichkeit möglichst draußen zu halten. Im Old Bailey spielt sich dann eine kafkaeske Szene ab: Als Folge der neuen Anklage wird Assange in seiner Zelle zunächst formal aus der Haft entlassen, nur um direkt danach wieder verhaftet zu werden.

Als er anschließend zwischen zwei Wachen im Gerichtsaal erscheint, nimmt er wie schon im Februar hinter einer Panzerglasscheibe Platz. Es ist ein Anblick, den man sonst nur aus Filmen, in denen gemeingefährlichen Mördern der Prozess gemacht wird, kennt, oder aus Russland, wo der Dissident Michail Chodorkowski von Wladimir Putin in einem Glaskäfig gehalten wurde – ein mit den westlichen Idealen von Menschenrechten und Freiheit schwer vereinbares Bild.

Dieses Mal schaffe ich es nicht in den Saal, denn die Corona-Pandemie hat der Richterin Vanessa Baraitser einen willkommenen Grund geliefert, die knappen Pressesitze auf ein Minimum zu reduzieren. Im Gerichtssaal sind fünf Journalisten zugelassen, weitere 15 haben eine Akkreditierung für einen Videolink bekommen. Immerhin gehöre ich dazu und verfolge nunmehr den Prozess von meinem Hotelzimmer aus. Warum allerdings die virtuellen Plätze auf 15 beschränkt sind, bleibt ein Rätsel. Für große Empörung sorgt Baraitser mit ihrer Entscheidung kurz vor Beginn der ersten Anhörung, 40 Video-Akkreditierungen für Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und Reporter ohne Grenzen, zu entziehen. Sie begründet diesen Affront damit, dass sie „nicht kontrollieren könne, wie die Leute sich verhalten“, die zu Hause auf dem Laptop zuschauen. Warum die Beobachter „den Interessen der Gerechtigkeit“ schaden würden, erklärt Baraitser nicht weiter. Man sollte meinen, dass den Interessen der Gerechtigkeit am besten gedient wäre, wenn mehr unabhängige Beobachter zuschauen würden. Aber das scheint Baraitser nicht zu interessieren.

So geht der an Assange exemplifizierte Kampf um die Pressefreiheit weiter. Die US-Anklage muss in erster Linie beweisen, dass Assange kein politischer Fall ist, sondern ein einfacher Krimineller, denn das britische Gesetz verbietet die Auslieferung von politisch Verfolgten. Einer der neuen Vorwürfe lautet, dass Assange aktiv versucht habe, Hacker zu rekrutieren, um an geheime Regierungsinformationen zu kommen, was unter anderem das eingangs genannte Zitat seiner Konferenzrede beweisen soll. Aber auch dieser Versuch, Assange zu kriminalisieren, wird von einem der Zeugen schnell entkräftet: Trevor Timm, ein Experte für Presserechte, kann erfolgreich nachweisen, dass der Aufruf zum Leaken heute zu den Standards von investigativem Journalismus gehört.

Ein weiterer neuer Punkt ist die Beihilfe zur Flucht des NSA-Whistleblowers Edward Snowden aus Hongkong. Dieser hat Assange dieser Tage in einem Youtube-Video ungewohnt offensiv verteidigt: „Für die, die sich nicht erinnern, dies ist der Mann, der der Gründer von Wikileaks ist, er ist 2016 regelrecht in Ungnade gefallen, weil er die Hillary- und Podesta-E-Mails veröffentlicht hat, aber das wird ihm nicht angelastet, der Auslieferungsprozess hat damit nichts zu tun. Tatsächlich versucht die US-Regierung unter William Barr, dem Generalstaatsanwalt, diesen Mann auszuliefern und ihn für den Rest seines Lebens ins Gefängnis zu stecken, für die beste Arbeit, die Wikileaks jemals gemacht hat. [...] Er hat auf der ganzen Welt Preise dafür bekommen, auch in den USA […], für Dinge, in denen es um explizite Kriegsverbrechen, Machtmissbrauch und Folter geht. […] Menschen, die getötet wurden, die nicht hätten getötet werden dürfen, Verstöße gegen die Vorschriften zur Anwendung von Gewalt und all diese Dinge […]. Das Gefährlichste an den Anschuldigungen ist: Wenn sie Assange ausliefern und wenn er verurteilt wird, wird er nach dem Spionagegesetz angeklagt. Dasselbe, unter dem ich angeklagt bin … Aber er ist keine Quelle.“

Er ist Journalist

Genau: Assange ist Journalist. Edward Snowden erinnert uns noch einmal daran, warum dieser Prozess der größte Angriff auf die Pressefreiheit unserer Zeit ist und jeden Journalisten auf der Welt bedroht. Im Falle der Auslieferung drohen Wikileaks-Gründer Julian Assange bis zu 175 Jahre Gefängnis, zudem könnte er drakonischen, besonderen Verwaltungsmaßnahmen unterworfen werden.

Ein weiterer Zeuge der Verteidigung ist der US-Anwalt Eric Lewis, der vergangene Woche an zwei Tagen per Videolink zugeschaltet wird. Er erklärt, dass die Untersuchung im Fall Assange eine der „größten FBI-Operationen in der Geschichte“ sei und dass es sich seiner Ansicht nach „um einen Missbrauch der strafrechtlichen Ermittlungsbefugnis“ handele. Lewis fügt hinzu, dass die Obama-Administration zwar 2013 die Entscheidung getroffen habe, Assange nicht strafrechtlich zu verfolgen, dies aber 2017 nach dem Amtsantritt von Donald Trump rückgängig gemacht worden sei. Er zitiert eine Rede von US-Außenminister Mike Pompeo: „Assange und seinesgleichen streben nach persönlicher Selbstverherrlichung durch die Zerstörung westlicher Werte“. Assange sei ein „Narzisst“, „ein Betrüger“, „ein Feigling, der sich hinter einem Bildschirm versteckt“.

Immer wieder muss die Beweisaufnahme wegen anhaltender technischer Probleme mit der transatlantischen Videoverbindung unterbrochen werden. Das macht es allen Beteiligten sehr schwer zu folgen, auch für uns Pressebeobachter erweist sich das Zuschauen auf dem Laptop als extrem anstrengend. Lewis’ Zeugenaussage wird in einem neuen Anlauf fortgesetzt. Er führt aus, dass die Anklage gegen Assange ein Versuch Trumps ist, die Aufmerksamkeit davon abzulenken, dass Wikileaks ihm während der Wahl 2016 geholfen hat: „Er will Assange ins Gefängnis stecken und ihn zum Schweigen bringen.“

Die Hand des US-Präsidenten

Auf die Frage, ob US-Staatsanwälte nicht immun gegen politischen Druck seien, verliest er das Trump-Zitat „Ich kann mit dem Justizministerium machen, was ich will“ und fügt hinzu, dass Generalstaatsanwalt Barr sich als „die Hand des Präsidenten“ betrachte.

Der Ankläger James Lewis geht sodann zum Thema Redefreiheit und nationale Sicherheit über und argumentiert, dass es geheime Informationen gebe, die, wenn sie durchsickerten, die nationale Sicherheit gefährden könnten. Eric Lewis antwortet, dies gelte etwa für die Veröffentlichung des Datums, an dem Truppenschiffe in Kriegszeiten den Hafen verlassen würden, aber nichts davon gelte für die von Wikileaks veröffentlichten Informationen, die Kriegsverbrechen sowohl im Irak als auch in Afghanistan aufdeckten. Dass die Obama-Administration entschieden habe, Assange nicht strafrechtlich zu verfolgen, sei das, was er das „Problem der New York Times“ nannte: Das Justizministerium sei damals zu dem Schluss gekommen, es gebe keinen Weg, ihn wegen der Veröffentlichung von Geheiminformationen zu verfolgen, ohne dass dieselbe Theorie auf viele andere Journalisten angewandt würde. Die Trump-Regierung habe dies Lewis zufolge ignoriert, weil sie erpicht darauf sei, Assange strafrechtlich zu verfolgen. Im Falle der Auslieferung müsse er mit bis zu drei Jahren Untersuchungshaft rechnen, bevor er vor ein US-Gericht gestellt werden könne.

Ein weiterer Zeuge, Thomas Durkin, ein ehemaliger stellvertretender US-Bezirksstaatsanwalt, bestätigt ebenfalls, dass die Anklage politisch motiviert sei und deren Erweiterung nun einen „Quantensprung“ in der Schwere des Falles darstelle. Durkin rechnet für den Fall einer Verurteilung Assanges mit einer Haftstrafe zwischen 38 und 45 Jahren für ihn, was angesichts des Alters von Assange (49) einer „drakonischen“ lebenslangen Haftstrafe gleichkäme. Was geschähe, wenn sich Assange schuldig bekennen und einen Deal mit der Anklage eingehen würde? Durkin sagt, das würde bedingen, dass Assange „uneingeschränkt mit der US-Regierung kooperieren“ und alle seine Informationsquellen preisgeben müsste. Der Julian Assange, den ich kenne, würde niemals seine Prinzipien und sein Lebenswerk verraten.

Mein jüngster Eindruck aus London ist, dass der US-Ankläger Lewis daran scheitert, die Zeugen mit überzeugenden sachlichen Argumente zu schlagen und deshalb versucht, ihre allgemeine Kompetenz in Zweifel zu ziehen, was nicht besonders überzeugend wirkt.

Und Assange? Die Kamera schwenkt täglich nur für wenige Augenblicke auf seinen Platz, wo er hinter der Panzerscheibe still dem Geschehen folgt. Nur einmal kann er sich nicht zurückhalten: Als Lewis behauptet, dass Assange nicht wegen der Veröffentlichung von Tausenden von militärischen und diplomatischen Geheimdokumenten angeklagt wird, sondern wegen Gefährdung von US-Informanten. Da steht Julian Assange auf und schreit laut: „Das ist Unsinn.“ Die Richterin unterbricht. Sie droht, ihn von der Verhandlung auszuschließen, wenn er noch einmal das Gerichtsverfahren stören sollte.

Angela Richter ist Autorin und Regisseurin. 2012 inszenierte sie in Hamburg das Theaterstück Assassinate Assange. Im Freitag schrieb sie über ihre Besuche bei Edward Snowden in Moskau (Ausgabe 20/2019) und Julian Assange in Ecuadors Botschaft in London (Ausgabe 1/2019) sowie mehrfach vom laufenden Prozess

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