Am Montag um kurz vor 11 Uhr Londoner Zeit verkündet die Richterin Vanessa Baraitser im Old-Bailey-Gericht ihr verblüffendes Urteil: Sie entscheidet gegen eine Auslieferung von Julian Assange an die USA. Es ist eine Sensation, mit der keiner gerechnet hatte.
Eine Stunde vorher logge ich mich in den virtuellen Warteraum des Gerichts ein, in den diesmal etwa 40 Journalisten und Beobachter zugelassen werden. Das ist mehr als bei jeder virtuellen Anhörung bisher. Im Gerichtssaal sind seit September wegen der Corona-Beschränkungen keine Beobachter erlaubt, deshalb verfolgen die meisten den Prozess wie ich von zu Hause aus auf dem Laptop oder in einem separaten Raum im Old Bailey. Jeder von uns wird vom technischen „Manager“ begrüßt und freigeschaltet. Al
haltet. Als die Übertragung endlich läuft, zeigt die Kamera zwanzig Minuten lang auf den leeren Panzerglaskäfig, in dem Julian Assange später Platz nehmen wird. Das Gericht verspätet sich, die Anspannung bei mir und den anderen führt im Laufe der Übertragung zu großem Unmut, als es wie so oft in diesem so wichtigen Verfahren zu Tonstörungen kommt und keiner den Worten der Richterin folgen kann. Erst nach 20 Minuten dreht ein Gerichtsdiener das Mikrofon der Richterin zurecht. Technische Probleme und Chaos begleiten dieses Verfahren schon von Anfang an. Im ersten Teil der Anhörung, die im Februar noch im düsteren Gerichtsgebäude auf dem Gelände des Hochsicherheitsgefängnisses Belmarsh stattfand, prügelte man sich um ein paar wenige Plätze im Saal. Ich war froh, es geschafft zu haben, denn der Rest musste sich in einem dreckigen Container einfinden, in dem Ton und Bild miserabel waren. Durch das ganze Verfahren hindurch verfestigte sich bei mir der Eindruck, dass die Öffentlichkeit nicht willkommen ist.Aus den falschen GründenAls die Übertragung losgeht, sieht man seine Verlobte Stella Moris in Begleitung der Wikileaks-Journalisten Kristinn Hrafnsson und Joseph Farrell. Assanges Vater John Shipton ist zum erstem Mal nicht dabei, er konnte nicht aus Australien anreisen.Das Urteil basiert hauptsächlich auf zwei humanitären Argumenten, die von vielen Beobachtern als „formal“ bewertet werden. Erstens den barbarischen Zuständen in US-Supermax-Gefängnissen und zweitens den möglichen Auswirkungen dieser Verhältnisse auf die labile Psyche Julian Assanges; die Richterin folgert daraus, dass er extrem selbstmordgefährdet sei und äußert Zweifel daran, dass präventive Maßnahmen ihn daran hindern könnten, sich im Gefängnis umzubringen. Sie merkte dazu an: „Herr Assange hat … zweifellos den Intellekt, diese suizidpräventiven Maßnahmen zu umgehen … Ich habe keinen Zweifel daran, dass Herr Assange über die ,Entschlossenheit, Planung und Intelligenz‘ dafür verfügt … Er hat bereits Selbstmordpläne gemacht … und Schritte unternommen, um seinen Tod zu planen, unter anderem, da er ein Testament verfasst und den katholischen Priester, der das Gefängnis besucht, um Absolution gebeten hat.“Placeholder infobox-2Ich rufe mir in diesem Augenblick mein letztes Treffen mit Julian Assange in Erinnerung, es war vier Monate bevor er verhaftet wurde und nach einem Jahr, das er schon in der Botschaft in Isolation verbracht hatte. Er war damals schon schwer angeschlagen nach so vielen Jahren der Verfolgung, und ich weiß noch, dass ich zum ersten Mal Angst um ihn hatte. Diese Angst hatte seit seiner Verhaftung nicht mehr nachgelassen.Als er freigesprochen wird, empfinde ich eine große Erleichterung, und zum ersten Mal keimt so etwas wie Hoffnung auf. So wie mir geht es auch seinen Unterstützern und Anwälten, aber schon bald wird die Freude von den Implikationen für die Pressefreiheit überschattet. Über die rechtlichen Argumente, die die Richterin bei der Ablehnung der Auslieferung vorbringt, sagt Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen noch am selben Tag: „Wir teilen die Einschätzung, dass eine Auslieferung angesichts der voraussichtlichen Haftbedingungen in den USA und angesichts des fragilen psychischen und körperlichen Gesundheitszustands von Julian Assange für ihn lebensbedrohlich wäre …. Die vorausgegangenen Ausführungen von Richterin Baraitser geben uns allerdings Anlass zu großer Sorge. Ihre Ansicht, dass es sich nicht um ein politisches Verfahren handelt und dass es nicht grundlegende Fragen der Pressefreiheit berührt, teilen wir in keiner Weise.“ Das Urteil lasse eine Hintertür offen für die Verfolgung von Journalistinnen und Journalisten weltweit.Was er damit meint, zeigt ein Blick in die Urteilsbegründung: Baraitser unterstützt alle rechtlichen Hauptargumente der Trump-Administration für eine Auslieferung, obwohl sie während der Anhörungen von Assanges Anwälten umfassend entkräftet wurden. Sie stimmt zu, dass das Auslieferungsabkommen von 2003 in Assanges Fall Anwendung findet, wobei sie die eigentlichen Worte des Abkommens ignoriert, die politische Fälle wie den seinen ausnehmen. Damit hat sie eine Hintertür dafür geöffnet, dass jeder Journalist, der es wagt, die US-Regierung mit Enthüllungen zur Rechenschaft zu ziehen, in seinem Heimatland gefangen genommen und an die USA ausgeliefert werden kann.Damals klang das paranoidBaraitser bestätigt nicht nur in weiten Teilen die Haltung der US-Regierung, sie negiert auch alle schwerwiegenden Vorwürfe der Verteidigung, dass die grundlegenden Bürgerrechte von Assange verletzt wurden: Sie nimmt billigend in Kauf, dass die USA Assange innerhalb der ecuadorianischen Botschaft ausspioniert haben. Assange war sich dessen immer bewusst; wenn ich ihn in der Botschaft besuchte, machte er einen kleinen Apparat an, der weißes Rauschen erzeugte, um unsere Privatsphäre zu schützen. Ich fand das damals etwas paranoid. Inzwischen ist bewiesen, dass er recht hatte. Diese Überwachung geschah sowohl unter Verletzung des Völkerrechts als auch seines Klienten-Anwalt-Privilegs, was viele Beobachter als ausreichenden Grund sahen, das Verfahren als solches zu stoppen. Dabei wurde oft der Watergate-Skandal zitiert, bei dem herauskam, dass Präsident Nixon in Auftrag gegeben hatte, in der Praxis des Psychologen von Pentagon-Papers-Enthüller Daniel Ellsberg einzubrechen, um „Dreck“ gegen ihn auszugraben. Als das herauskam, brach der Prozess zusammen und Ellsberg wurde freigesprochen.Was noch schwerer wiegt: Baraitser akzeptiert, dass die Methode, mit der Assange etwa die Whistleblowerin Chelsea Manning als Quelle schützte, nun als kriminelles „Hacking“ definiert wird. Sie sagt wörtlich: „Die freie Meinungsäußerung beinhaltet keinen ,Trumpf‘, selbst wenn Angelegenheiten von ernsthaftem öffentlichen Interesse offengelegt werden … und sie bietet nicht das uneingeschränkte Recht für einige wie Herrn Assange, über das Schicksal anderer zu entscheiden“Die niederschmetterndste Nachricht für Journalisten aber ist, dass Baraitser die gefährliche neue Definition der US-Regierung von investigativem Journalismus als „Spionage“ akzeptiert hat. Assange ist der erste Journalist überhaupt, der unter dem „Espionage Act“ angeklagt wurde, was weltweit für Entsetzen gesorgt hatte und als größte Gefahr für die Pressefreiheit angesehen wird. Auch Assanges Anwältin Jennifer Robinson kommentierte die Entscheidung mit den Worten: „It is a win for Julian Assange, but it is not a win for Journalism.“Und Julian Assange? Am Ende zoomt die Kamera auf den Panzerglaskäfig, in dem er sitzt. Er trägt einen dunklen Anzug und Maske. Als die Richterin gegen seine Auslieferung entscheidet, bleibt er unbewegt sitzen und zeigt keine äußere Emotion. Aber im Anschluss steht er auf und redet aufgeregt durch den Luftspalt der Scheibe mit seinen Anwälten. Denn trotz der umstrittenen Begründung und der unguten Implikationen für die Pressefreiheit ist das Urteil ein großer persönlicher Triumph für Julian Assange und ein wichtiger Wendepunkt in einem juristischen Kampf, der fast ein Jahrzehnt gedauert hat.Doch noch ist es nicht ausgestanden: Trotz der Entscheidung am Montag wird sich dieser Kampf wahrscheinlich hinziehen, da die US-Staatsanwälte noch vor Gericht angekündigt haben, dass sie in Berufung gehen werden. Sie haben zwei Wochen Zeit, dies zu tun. Wie geht es nun weiter? Nach Redaktionsschluss wird das Gericht erneut zusammengekommen sein, um über eine Kaution zu entscheiden. Wenn Sie diese Zeitung in Ihren Händen halten, könnte Assange also bereits freigekommen sein. Falls die USA in Berufung gehen, wird diese vermutlich schon im April stattfinden, vor dem High Court in London.Aller Erwartung nach wird Julian Assange nach vielen Monaten seine Verlobte und die zwei Kinder wiedersehen können.Stella Moris, die nach eigener Aussage überhaupt nicht vorbereitet war auf den positiven Ausgang, sagte vor dem Gericht Old Bailey, sie habe im letzten Moment ihre Rede umschreiben müssen. Trotz ihrer Freude fand sie mahnende Worte: „Solange Julian als nicht verurteilter Gefangener im Belmarsh-Gefängnis Leiden und Isolation ertragen muss und solange unsere Kinder weiterhin der Liebe und Zuneigung ihres Vaters beraubt sind, können wir nicht feiern ... Der heutige Tag ist der erste Schritt in Richtung Gerechtigkeit in diesem Fall. Wir freuen uns, dass das Gericht die Schwere und Unmenschlichkeit dessen, was er ertragen hat und was ihm bevorsteht, anerkannt hat. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Anklage in den USA nicht fallengelassen wurde. Wir sind äußerst besorgt, dass die US-Regierung beschlossen hat, gegen diese Entscheidung Berufung einzulegen. Sie will Julian weiterhin bestrafen und ihn für den Rest seines Lebens im tiefsten, dunkelsten Loch des US-Gefängnissystems verschwinden lassen.“ Und dann bat sie den Präsidenten, Julian Assange zu begnadigen. Welchen der beiden sie dabei meinte, Trump oder Biden, ließ sie offen.Placeholder infobox-1
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