Der Fall Assange: Wo sind denn hier die Menschenrechte?

Wikileaks Mit Hilfe der CIA sollte Julian Assange ermordet werden – nun hat ein Gericht in Großbritannien entschieden, dass der Wikileaks-Gründer trotzdem in die USA ausgeliefert werden darf. Warum dieses Urteil eine Katastrophe für uns alle ist
Das Schicksal von Julian Assange geht uns alle an – und doch ist das Schweigen der Öffentlichkeit atemberaubend
Das Schicksal von Julian Assange geht uns alle an – und doch ist das Schweigen der Öffentlichkeit atemberaubend

Foto: Daniel Leal/AFP via Getty Images

Vor einigen Wochen, während der letzten Anhörung in Julian Assanges zweitinstanzlichen Auslieferungsverfahren, sprach sein Anwalt Mark Summers einige bemerkenswerte Worte: „Jedenfalls ist dies das erste Mal, dass die USA die Beihilfe eines britischen Gerichts erbeten hat, um einer Person habhaft zu werden, deren Vergiftung oder Ermordung sie zuvor durch eine Regierungsbehörde hat planen lassen.“

Ausgerechnet am „Tag der Menschenrechte“ sind die Richter in London dieser Bitte zur Beihilfe nachgekommen und haben die erstinstanzliche Ablehnung des US-Auslieferungsantrags für den Wikileaks Gründer gekippt.

Mutete die Bemerkung von Mark Summers vor Gericht noch wie schwärzester britischer Humor an, ist es jetzt umso verstörender, dass ein britisches Gericht die Entscheidung, Julian Assange nicht auszuliefern, tatsächlich aufgehoben hat. Schließlich ist bekannt, dass die Regierung der Vereinigten Staaten mit Hilfe der CIA Mordpläne gegen Julian Assange geschmiedet hat.

Der US-Ankläger James Lewis hatte den Briten „diplomatische Zusicherungen“ versprochen: Würde Assange ausgeliefert, werde er nicht im berüchtigten Bundesgefängnis ADX Florence in Colorado inhaftiert, das als Gefängnis mit den höchsten Sicherheitsstandards der USA gilt. Assange werde auch nicht dem strengen Regime der „Special Administrative Measures“ (SAMs) unterworfen – spezielle Maßnahmen in Hochsicherheitsgefängnissen, die Unterbringung, Kommunikation und Besuch für verurteile Straftäter betreffen können. Vor dem Hintergrund der Mordpläne der CIA klang es wie blanker Hohn als Richter Timothy Holroyde heute morgen verkündete, dass „das Gericht davon überzeugt ist, dass diese Zusicherungen“ dazu dienen werden, die physische und psychische Gesundheit von Assange zu schützen.

Der Sieg der USA ist niederschmetternd

Die heutige Entscheidung hat bei Menschenrechtsorganisationen weltweit für Entsetzen gesorgt, PEN, Reporter ohne Grenzen, Amnesty International und viele andere riefen erneut zu seiner unverzüglichen Freilassung auf.

Wie geht es nun weiter? Infolge der heutigen Entscheidung wird der Auslieferungsantrag an die britische Innenministerin Priti Patel weitergeleitet, die den Antrag sehr wahrscheinlich wieder absegnen wird. Assanges Anwälte und seine Verlobte Stella Morris, haben sofort angekündigt, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Sie haben dafür 14 Tage Zeit.

Der heutige Sieg der USA ist niederschmetternd, denn er bedeutet, dass Assanges Freiheit – wenn sie denn überhaupt kommt – in weiterer Ferne ist als je zuvor: Assange wird wohl nicht Monate, sondern noch Jahre seines Lebens im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh verbringen. Und das wohlgemerkt ohne jegliche rechtliche Grundlage: in Großbritannien liegt nichts gegen ihn vor. Es ist ein nicht enden wollender Albtraum vor den Augen einer Öffentlichkeit, die für Ungerechtigkeit jenseits der eigenen kleinlichen Interessen blind geworden ist.

Kriegsverbrecher sind frei – Assange hinter Gittern

Der Fall Assange wirft ein grelles Schlaglicht auf die monströse Dysfunktionalität unserer Menschenrechte. Nochmal zur Erinnerung: Assange ist seit über elf Jahren de facto kein freier Mann mehr, weil er mit Wikileaks US-Kriegsverbrechen und Folter enthüllt hat. Kein einziger der US-amerikanischen Kriegsverbrecher, die im Irak, in Afghanistan oder Guantanamo erwiesenermaßen Unschuldige, Zivilisten und sogar Kinder gefoltert und ermordet hatten, wurde für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit je zur Verantwortung gezogen. Sie alle sind frei. Zur Rechenschaft gezogen wird Assange, der uns die Wahrheit über diese Kriegsverbrecher enthüllt hat.

Wir alle haben Assange viel zu verdanken. Er ist ein Visionär, der den modernen Journalismus revolutioniert und mit Wikileaks eine Institution geschaffen hat, an der keiner mehr vorbeikommt: Denn Assange erkannte als erster, dass die Schwachstelle korrupter Machtzentren im digitalen Zeitalter massenhafte Datenlecks sind. Basierend auf dieser Erkenntnis, erfand er einen digitalen anonymen Briefkasten, der es Whistleblowern ermöglicht, korrupte Institutionen zu enttarnen. Dieses System wird inzwischen von allen großen Nachrichtenorganisationen auf der ganzen Welt benutzt.

Assange hat in den vergangenen fünfzehn Jahren mehr wichtige Geschichten aufgedeckt als alle Medien weltweit zusammengenommen. Was, wenn er nicht trotz seines bahnbrechenden Journalismus und seiner visionären Weitsicht verfolgt wird, sondern genau deshalb? So oder so, der mangelnde Rückhalt in der Presse und das Schweigen der Öffentlichkeit ist atemberaubend.

Hat die Ampel den Mut, für Assange zu kämpfen?

Doch jede juristische Niederlage Assanges vor Gericht, ist auch unsere Niederlage. Jeder Schlag gegen Assange, ist ein Schlag gegen unsere Pressefreiheit, unsere Menschenrechte und die Demokratie selbst. Es ist als würde man einem tödlichen Autounfall in Zeitlupe zusehen.

Wenigstens Linken-Politikerin Sevim Dağdelen forderte die neue Bundesregierung dazu auf, Assange Asyl anzubieten und erklärte: „Der Fall Julian Assange ist die erste Bewährungsprobe für die Glaubwürdigkeit der Ampelkoalition, die sich selbst einer sogenannten werte- und menschenrechtsbasierten Außenpolitik verpflichtet hat. Es ist zu begrüßen, dass der neue Vizekanzler Robert Habeck sich vor wenigen Monaten öffentlich für die Freilassung von Julian Assange eingesetzt hat. Die Bundesregierung muss jetzt gemeinsam die politisch motivierte Entscheidung des Londoner Berufungsgerichts in aller Deutlichkeit kritisieren und bei der britischen Regierung auf einen Auslieferungsstopp drängen. Sie bat außerdem die neue Außenministerin Annalena Baerbock, sich beim US-Außenminister Blinken für die Freilassung Assanges einzusetzen. Es wäre zu begrüßen, wenn die neue Regierung den Mut hätte, das Thema Assange endlich aufzugreifen. Christian Lindner fordert regelmäßig die Freilassung von Alexej Nawalny. Ob er sich wohl traut, dasselbe für Assange zu fordern?

Der Kampf ist noch nicht vorbei. Free Assange!

Angela Richter ist Autorin und Regisseurin. 2011 lernte sie Julian Assange bei Recherchen zu einem Theaterstück kennen. Für den Freitag schrieb sie mehrfach über sein Asyl in London und den Prozess

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