Strenge Zeiten erzwingen eine Besinnung auf das Wesentliche. In der deutschen Politik herrschen strenge Zeiten. Der Kuchen wächst nicht mehr. Aufgrund von Arbeitslosigkeit, demographischer Entwicklung und auf halbem Wege stecken gebliebener Frauenemanzipation muss eine immer kleinere Zahl an Produktiven eine immer grössere Zahl an Nichtproduktiven unterhalten. Die ökonomische Globalisierung entfesselt den zumindest in Wohlfahrtsstaaten gezähmt geglaubten kapitalistischen Markt. Die mit dem Aufbau Ost eingegangene Kreditschuldenlast erdrückt die öffentlichen Haushalte. Politische Gerechtigkeit kann sich nicht mehr über die Verteilung eines wachsenden Kuchens vollziehen. Es geht ans Eingemachte. Die SPD spart und reflektiert auf ihr Konzept von Gerechtigkeit.
In seinen "13 Thesen zur Gerechtigkeit" in der Frankfurter Rundschau vom August vergangenen Jahres propagierte der scheidende Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, eine Kurskorrektur weg von Verteilungsgerechtigkeit, hin zu Chancengleichheit. An die Stelle der materiellen Verteilung von Kuchenzuwachs müsse die Chance auf Teilhabe an Arbeit und Bildung für alle treten. So viel Solidarität mit den Schlechtergestellten könne und müsse man der "Allianz der Tüchtigen" abverlangen.
Wie ist diese Kurskorrektur genauer zu verstehen und einzuschätzen? Auch in der akademischen politischen Philosophie läuft derzeit eine Grundsatzdebatte. Ein Minimalkonzept von Gerechtigkeit als Menschenwürde fordert das seit John Rawls´ Theorie der Gerechtigkeit von 1974 dominante Maximalkonzept von Gerechtigkeit als Gleichheit der Lebensaussichten für alle heraus. Wie verhält sich Scholz´ Forderung nach der Inklusion aller in Arbeit und Bildung zum Konzept der Gerechtigkeit als Menschenwürde? Dass es sich bei beiden Konzepten um eine Minimalisierung, ein Zurückschrauben von Gerechtigkeitsansprüchen, eine Besinnung auf das Wesentliche handelt, ist klar.
Im Herzen von Gerechtigkeit, minimal oder "humanistisch" verstanden, stehen anthropologische Einsichten in das, was Menschen brauchen, um menschenwürdig zu leben. Gerechtigkeit erfordert das Absehen von eigenen Sonderinteressen und die Hinwendung zu der Menschheit in unser aller Person. Gerechtigkeit verlangt, dass jeder Mensch Zugang hat zu Nahrung, Obdach und medizinischer Grundversorgung. Sie verlangt, dass in jedem menschlichen Leben Raum ist für private wie politische Selbstbestimmung, für Differenz und persönliche Nahbeziehungen. Sie verlangt, dass jeder Mensch sich in seiner Gesellschaft zugehörig, als "eine/r von uns" fühlen können muss. Diese Mimimalstandards universaler Gerechtigkeit geben Schwellenwerte vor, die noch kulturspezifisch zu konkretisieren sind. So führt zum Beispiel diese Konkretisierung des Rechtes auf soziale Zugehörigkeit in Arbeitsgesellschaften, und nur in diesen, zu einem moralischen Recht auf Arbeit. Diesem im Namen der Menschenwürde zu garantierenden Sockel nachgeordnet rangieren diverse Standards der Verteilungsgerechtigkeit, wie das Verdienstprinzip, das Qualifikationsprinzip oder das Prinzip des freien Tausches.
Stellen wir uns eine Waage vor, die die Lebensaussichten der Menschen misst. Der vielgeliebte, begabte, kerngesunde Sunnyboy aus guter angesehener Familie schneidet bei dieser Messung besser ab als der ungeschickte, kränkelnde Einzelgänger aus einer zerrütteten Arbeitslosenfamilie. Worauf es der minimalen Gerechtigkeit ankommt ist, dass beide die Schwelle des anständigen Lebens passieren können, dass keiner in den roten Bereich unterhalb dieser Schwelle abgedrängt wird.
So weit, so unkontrovers? Und doch ist diese Antwort auf die Frage danach, was Gerechtigkeit im Kern ausmacht, kontrovers. Sie liegt quer zum Mainstream der politischen Gegenwartsphilosophie. Sie verträgt sich nicht mit den Antworten, die John Rawls, Ronald Dworkin oder Amartya Sen geben.
Der Mainstream der politischen Philosophie begreift Gerechtigkeit als Gleichheit. Gleichheit gilt als zentrales Ziel der Gerechtigkeit. Will sagen, eine gerechte Gesellschaft oder eine gerechte Welt ist eine, in der jeder Mensch die gleiche Chance hat, gut zu leben, nach seinen eigenen Vorstellungen gut zu leben. Von "Chancen" und nicht von Lebensniveaus spricht dieser "Egalitarismus", da Menschen mitunter selbst etwas dafür können, wie gut oder schlecht sie im Vergleich zu anderen dastehen. Wenn die einen hart arbeiten oder sparen, während die anderen "sich auf die faule Haut legen" oder "das Geld zum Fenster heraus schmeißen", und die einen fortan über bessere Lebensniveaus verfügen als die anderen, dürfe dies nicht als Verletzung der normativ gebotenen Gleichheit gelten, sondern sei moralisch ganz in Ordnung. Für ihre Entscheidungen müssten die Menschen schon selbst einstehen. Egalisiert müsse nur werden, was Menschen einfach so zufällt, zum Beispiel die Gaben der Natur, der äußeren wie der inneren, Erbschaften oder Geschenke.
Die Gleichheit der Chancen auf ein gutes Leben ist im Egalitarismus gewöhnlich nicht das einzige Ziel der Gerechtigkeit. Hinzu tritt ein zweites Ziel, das der Steigerung der Wohlfahrt. Gleiche Lebenschancen lassen sich - streng formallogisch - schließlich auch dadurch schaffen, dass man einfach alle umbringt. Alle mit 0 Chancen ist auch eine Form der Gleichheit. Der pluralistische Egalitarismus kombiniert den Wert von Gleichheit mit dem Wert von Wohlfahrt. Um einer größeren Wohlfahrt für alle willen nimmt der pluralistische Egalitarismus sogar oft Abstriche an Gleichheit in Kauf. Ein Standardbeispiel für einen solchermaßen moderaten pluralistischen Egalitarismus gibt John Rawls´ Differenzprinzip ab. Das Differenzprinzip weist Ungleichheiten, welche die absolute Position der am schlechtest Gestellten anheben, als gerecht aus.
Stellen wir uns wiederum eine Waage vor, die die Lebenschancen der Menschen misst. Anders als im Sockelkonzept von Gerechtigkeit geht es dem egalitaristischen Mainstream nicht nur darum, dass alle den grünen Bereich erreichen können, sondern darum, dass alle einen möglichst gleichen und hohen Wert erreichen. Der Egalitarismus misst mit einer Balkenwaage und will, dass der Balken möglichst gerade ist. Den Humanismus stört es nicht, wenn der Balken schief ist. Der Humanismus misst mit einer anderen Waage. Ihn stört es, wenn Menschen in den roten Bereich fallen.
Verlangt Gerechtigkeit Gleichheit, oder verlangt sie nur den Sockel für alle? Nur den Sockel, behaupte ich. Argumente dafür, dass sie mehr verlangt als den Sockel, sucht man in der politischen Philosophie und Praxis vergebens. Was man anstelle von Argumenten findet, ist eine Verwechslung von Forderungen nach Allgemeinheit oder Inklusion, nach der allgemeinen Gewährung des Zugangs zu dem Sockel einerseits, mit Forderungen nach relationaler Gleichheit andererseits. Anders gesagt, man findet eine Verwechslung von Forderungen nach dem Genug für alle mit Forderungen nach dem Gleich viel wie die anderen für alle. Der Verwechslung zugrunde liegt eine logische Möglichkeit unserer Sprache, die Möglichkeit, dass man Forderungen nach Allgemeinheit oder Inklusion stets in Forderungen nach Gleichheit umformulieren kann. Statt: Alle Menschen sollen den Sockel erreichen können, kann man auch sagen: Alle Menschen sollen gleich darin gemacht werden, dass sie den Sockel erreichen können, oder: Ihre Lebensaussichten sollen dahingehend angeglichen werden. Aber diese Gleichheit, die man dann fordert, ist nur ein Nebenprodukt des eigentlichen Ziels. Die Gleichheit sitzt auf der allgemeinen Gewährung von x oder der Inklusion in x nur auf. Sie ist nicht unabhängig davon. An sich ist die Angleichung der Lebenschancen der Menschen kein Ziel der Gerechtigkeit. Wir müssen nicht alle Kontingenzen (ungleiche Begabungen, Gesundheitszustände, Familienverhältnisse), von denen das menschliche Leben nur so wimmelt, kompensieren, um möglichst gerade Balken zu erreichen. Der Egalitarismus überstrapaziert die Gerechtigkeit. Wir sollten ihn uns abschminken.
Die Frage an Olaf Scholz oder an einen seiner Nachfolger lautet denn: Hält er oder sie es mit den Egalitaristen oder mit den Humanisten? Will er den möglichst geraden Balken der Balkenwaage, oder will er nur alle Zeiger im grünen Bereich? Die Antwort auf diese Frage liegt nicht auf der Hand. Was auffällt ist, dass Scholz kein Aufhebens um die Gleichheit macht. Aber zeigt dies schon, dass er gegen den Egalitarismus und für den Humanismus eintritt?
Scholz plädiert für den Übergang von materieller Verteilungsgerechtigkeit zu Gerechtigkeit als Teilhabe an Bildung und Arbeit. Verschiebt Scholz damit nur innerhalb des Egalitarismus den Fokus von materiellen Gerechtigkeitsansprüchen auf immaterielle Ansprüche, insbesondere im Bereich der Schlüsselgüter Bildung und Arbeit und damit auch auf die Verantwortung eines jeden, sich an Arbeit und Bildung zu beteiligen? Geht es um eine Stärkung der Eigenverantwortung bei Garantie einer gleichen Chance für alle? Aber wie will man Selbstverschuldetes von Zugestoßenem richtig trennen? Wie will man feststellen, ob ein Raucher, der mit dem Rauchen im Krieg begonnen hat, auf Staatskosten eine Lungenkrebsbehandlung erhalten soll? Bürokraten müssten beurteilen, ob er angesichts des sozialen Drucks, dem er von Seiten seiner Kameraden ausgesetzt war, angesichts der angstmindernden Wirkung des Rauchens in extrem belastenden Kampfsituationen und angesichts der Möglichkeiten, die ihm angeboten wurden, sich das Rauchen nach dem Krieg hätte abgewöhnen müssen. Um Anspruch auf eine lebenswichtige Leistung zu erhalten, müssten sich Menschen der Beurteilung anderer unterwerfen, wie sie ihre Chancen hätten nutzen sollen. Und ferner: Hat ein Mensch, der an seinem Elend selber schuld ist, wirklich jeden Anspruch auf Hilfe im Namen der Gerechtigkeit verwirkt? Der Egalitarismus zeigt hier sein inhumanes Gesicht.
Oder wollen Scholz ff - immer noch innerhalb des Egalitarismus - Abstand nehmen vom Ausgleich natürlicher Kontingenzen und den Egalitarismus beschränken auf den sozialen Bereich: Alle sollen an derselben Startlinie den Wettlauf des Lebens beginnen. Dass von Natur aus stärkere Läufer das Wettrennen eher gewinnen als schwächere wäre dann in Ordnung. Die Rede von "Chancen" könnte nicht nur die Betonung der Eigenverantwortung, sondern auch die Zurückweisung des umfassenden Schicksalsegalitarismus markieren. Aber ist der Rückzug auf einen Egalitarismus, der nur die sozialen Umstände von Menschen ausgleicht, angesichts angeborener Behinderungen oder Krankheiten überzeugend? Haben Behinderte und Kranke nicht das Recht auf Unterstützung?
Oder will Scholz noch den entscheidenden Schritt weitergehen und dem Egalitarismus den Rücken kehren und sich dem Humanismus zuwenden? Einem Humanismus, der den Schwerpunkt auf die Inklusion aller in Arbeit und Bildung legt. Scholz und die SPD wären gut beraten, wenn sie diesen entscheidenden Schritt weitergingen und substantielle Einsichten in das, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, an die Stelle von überzogener, formaler Gleichheit treten ließen.
Angelika Krebs ist Professorin für Philosophie an der Universität Basel. 2000 veröffentlichte sie im Frankfurter Suhrkamp-Verlag den Sammelband Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte zur neueren Egalitarismuskritik. Zuletzt erschien von ihr 2002 der Band Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit.
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