Es waren einmal viele Pixel

Von "Toy Story" bis "Findet Nemo" Digitale Animation hat das filmische Erzählen verändert, aber es gibt namhafte Verweigerer der neuen Techniken

Der blaue Doktorfisch Dorie hat sich verletzt. Eben noch sprachen die drei Haie Hammer, Hart und Bruce recht entspannt mit ihr. Mit der blutenden Wunde aber gibt es eine gefährliche Wendung. Langsam und entsetzt nehmen wir wahr, wie das hellrote, mit Meerwasser vermischte Blut in feinen Schwaden aus der Wunde hinauf zu Bruces Nase steigt und wie ihm einfällt, dass Dorie nicht nur Freund, sondern auch Futter sein kann.

Das ist ein spannender, höchst sinnlicher Moment des aktuellen Films Findet Nemo, einer Produktion des Pixar-Studios. Die Geschichte des verlorenen Nemo hält sich ganz an die brave Familientradition der Disney-Filme. Die Idee ist nicht eben neu, die stereotype Riege lustiger Nebenfiguren nicht wirklich schräg, die Botschaften vorhersehbar. Die Stärke des Films - der sein sensationelles Einspielergebnis aus den USA zur Zeit auch auf Deutschland ausweitet - ist seine Technik. Jener Eindruck des aufsteigenden Blutes ist ein Novum in Animationstechnik und nie zuvor hat ein Haufen Pixel für soviel Tiefenraumgefühl gesorgt. Aber ein zweites Toy Story, der erste legendäre Erfolg von Pixar, ist er nicht.

Meilenstein "Toy Story"

Es war im Jahre 1995, als Kinder und Erwachsene begannen, das Spielzeug in den Kinderzimmern mit anderen Augen zu sehen. Toy Story war der erste vollständig computeranimierte Spielfilm und der Beginn eines neuen Filmzeitalters. Gleichzeitig zeigte er, wie mit der neuen Technik neue Themen und Ideen einher gehen können. Für die Geschichte des Puppencowboys Woody, der mit dem Einzug des Action-Astronauten Buzz Lightyear seinen Status als Lieblingsspielzeug gefährdet sieht, war die neue Technik wie geschaffen. Die Schöpfer von Toy Story begaben sich in eine Welt der Dinge, die nicht aus Fleisch und Blut waren, sondern "technisch". Der geniale visuelle Trick dabei: eine simulierte Kamera zeigte konsequent die Perspektive der Spielsachen. Menschen traten meist nur bis Kniehöhe ins Bild. Die vertrauten Dinge unserer bewohnten Welt bekamen dadurch ein neues Maß. Toy Story bescherte uns nicht weniger als eine neue Sicht auf eine alte Geschichte.

Bis dahin bedeutete Digitaltechnik vor allem Vervollkommnung konventioneller Filme mit Tricks, die in die Filmgeschichte unter dem Begriff "Spezialeffekte" eingingen. In den neunziger Jahren dann kam es zu einer regelrechten Explosion von Geschichten, in denen Computeranimation gebraucht wurde, damit sie filmisch überhaupt erzählbar wurden.

Was der Eine überbordend und in der Story angelegt höchst sichtbar verwendete, wie James Cameron in Terminator 2, nutzte der Andere unauffällig für historische Opulenz wie Steven Spielberg in Schindlers Liste. Der Nächste setzte die Digitaltechnik für gefälschte Dokumentationen ein (Robert Zemeckis in Forrest Gump), während der, den man künstlerisch in einer anderen Liga wähnt, nämlich beim Autorenkino - Woody Allen, nur mal ein riesiges, rotleuchtendes Stahlwerk brauchte, um eine ehemalige Mieterin von der Upper East Side Manhattan darin verschwinden zu lassen.

James Camerons Titanic war schließlich sowohl von beeindruckender Tricktechnik als auch erzählerischer Kraft. Vor die Wahl gestellt, ob die Katastrophentechnik zu bewerben sei oder die Liebesgeschichte, entschieden sich die Strategen damals für das Liebespaar Leonardo DiCaprio und Kate Winslet. Gladiator, Ridley Scotts Sandalen-Drama, war drehtechnisch ein Film mit fragmentarischen Kulissen und leeren Blue Screens. Dass er trotzdem so lebendig wirkt, ist das Ergebnis einer klaren erzählerischen Vision und exzellenter Schauspielkunst. The Matrix dagegen nahm sich die Digitaltechnik selbst und die dazugehörigen futuristischen Konflikte zum Thema und trieb Coolness auf die Höhe modernster Erzähl- und Animationstechnik. Literarische Fantasy-Meisterwerke wie Herr der Ringe und Harry Potter, deren Fabelwesen erst mit Computertechnik das Licht der Welt erblicken konnten, gingen in opulente Kino-Serie.

Das Selbstverständliche des Phantastischen durch Digitalanimation brachte für Comicverfilmungen einen ganz neuen Aufschwung und stellte sie auf das Niveau der geschulten visuellen Wahrnehmung des heutigen Publikums (Spiderman, X-Men, Hulk). Das war nicht immer gleich spannend. Denn auf der anderen Seite scheint die zunehmende Technisierung von Kinogeschichten beim Publikum zu bewirken, dass Human Touch und erzählerische Schlüssigkeit wieder höher bewertet werden.

Die Tragik von "Star Wars"

Gewissermaßen ist Star Wars nämlich zum tragischen Fall der Filmgeschichte geworden: Solange die Mittel relativ naiv blieben, funktionierten die Geschichten und Figuren und bewegten ganze Generationen. In dem Moment jedoch, als ihr Schöpfer George Lucas über die finanziellen und technischen Mittel verfügte, die er brauchte, um sein Epos perfekt zu erzählen, wird die Geschichte mit Technik erschlagen. Zwar verzeichneten auch die neuen Star Wars-Filme - vorbildliche Produkte moderner Digitaltechnik - Rekordergebnisse an der Kasse, doch gelang es ihnen nicht, die Figuren auch nur annähernd so ins Gedächtnis der Zuschauer zu brennen wie einst Luke, Lea und Han Solo.

Animationsfilme erlebten nach Toy Story eine neue Anerkennung. Immer wieder zeigte es sich jedoch, dass die Technik mit dem Märchenpotenzial in Einklang stehen muss. Sechs Jahre nach Toy Story kam Shrek, eine Produktion des Konkurrenzstudios Dreamworks, in die Kinos. Technisch noch avancierter - die Anzahl der Steuerungsmöglichkeiten einer Ganzkörperanimation hatte sich mehrmals verhundertfacht - war es dennoch die Geschichte mit ihren überraschenden Wendungen, die Shrek berühmt und erfolgreich machte.

Bei Verfilmungen von Computerspielen, die ja wie geschaffen scheinen für digitale Animation, ergab sich das Problem, dass es keine richtigen Storys gibt, denn interaktive Geschichten unterliegen anderen erzählerischen Gesetzen. Lara Croft lief im Kino enttäuschend. Und die Werbe-Behauptung von Final Fantasy, Schauspieler würden in Zukunft überflüssig, verhallte ohne Resonanz.

Nieder mit der Digitaltechnik?

Da kann die Errettung der Wirklichkeit, aber auch ganzer Berufsstände zum Schlachtruf werden. Das ruft Verweigerer auf den Plan. Zwei prominente Beispiele sind Roman Polanski mit Der Pianist und Quentin Tarantino mit Kill Bill. Bemerkenswert ist, dass beide es als einen Vorzug ihrer Filme betrachten, dass der Eine (Roman Polanski) wenig und der Andere (Quentin Tarantino) gar keine digitalen Effekte verwendete. Und das zu einer Zeit, da der Einsatz von Digitaltechnik in einem historischen Film wie Der Pianist als künstlerisch unbedenklich und kostensparend gilt. Da gab es zum Beispiel solche szenenbildnerischen Herausforderungen wie das Auferstehen von unversehrten alten Warschauer Stadtteilen, die es einfach nicht mehr gibt. Statt eine Computerfirma zu beauftragen, drehte Roman Polanski in jenem winzigen Teil von Warschau, der von früher her noch intakt war. Monatelang suchte sein Team in Europa nach Ruinen. Es gab keine mehr; aber sie fanden eine verlassene ehemalige Siedlung sowjetischer Soldaten in der Nähe von Potsdam. Der Moment, in dem sich vor Adrien Brody die zerstörte - wirkliche - Allee auftut, gehört zu den überwältigendsten des Films. Polanski wollte den Film, in dem die Authentizität der beschriebenen Ereignisse ein Teil der Idee ist, auch in wirklichen Kulissen spielen lassen.

Bei Kill Bill, der als Martial-Arts-Thriller der härteren Sorte ebenfalls prädestiniert für Computeranimation schien (siehe Matrix), verzichtete Tarantino bewusst auf die Maschinen. Seine Liebe zu Schauspielern ließ ihn aus Kill Bill ein Fest der Bewegungen des realen menschlichen Körpers im Allgemeinen und der wendigen Uma Thurman im Besonderen machen.

In beiden Fällen ist die Entscheidung der Regisseure gegen Computertechnik keine puristische Trotzreaktion, sondern Konzept. Kern eines guten Films bleibt die gute Geschichte. Die Filmerzählungen der vergangenen zehn Jahre haben gezeigt, dass Filme mit digitaler Animation immer dann interessant waren, wenn die Technik ihre Aufgabe erfüllte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.


'; $jahr = '2004

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden