Es war der Schlag. Mit dem Gewehrkolben. Wie sie nicht darauf gefasst war, zu Boden ging, zum Auto geschleift wurde. Der Sprung des Soldaten aufs Trittbrett, der Kopfschuss, der Abwurf ihres Körpers in den Landwehrkanal. Nur noch das dunkle Wasser. Abspann. Schock im Kinosessel. Rosa Luxemburg war soeben vor unseren Augen ermordet worden. Zum ersten Mal war das Furchtbare ihrer letzten Minuten in einem Film spürbar geworden.
So physisch, so unpathetisch und so untröstlich war Rosas Tod – diese Nachricht brachte die westdeutsche Filmautorin Margarethe von Trotta 1986 in die DDR-Kinos. Das war, trotz der Geschichtsbücher, überraschend. Denn an Luxemburgs Tod wurde zwar in jedem Januar mit starrem Staatszeremoniell in Berlin-Friedrichsfelde erinnert. Aber erzählt worden war er so nie.
Zwei Stunden lang entfaltet die Regisseurin die rastlose Lebensenergie ihrer Figur, aber nicht in einer klassischen Filmbiografie. Trotta legte Wert auf historische Ernsthaftigkeit. Ein Team, zu dem die DDR-Rosa-Luxemburg-Spezialistin Annelies Laschitza gehörte, beriet sie in wissenschaftlichen Fragen. Aus der Fülle des Materials gelang es Trotta, eine Geschichte zu bauen, die an einem verschneiten Tag im Gefängnis in Wronke im Dezember 1916 beginnt. Rosa läuft schleppend, schwarz vom Schnee sich abhebend, über den Hof, elegisch der eingesprochene Brieftext. Rückblende, zehn Jahre zuvor: Rosa in einem anderen Gefängnis, beim Verhör, als Opfer einer simulierten Erschießung. Plötzlich: Rosa als Kind. Dann zurück in den Verhörraum.
Dem Dilemma der vielen „wahren Begebenheiten“ in einer Biografie begegnet Trotta mit der Gestaltung kleiner Dramen, deren kurzer Spannungsbogen eine Szene lang aufgebaut wird bis zur Auflösung. Dann weiter zum nächsten kleinen Drama. Stück für Stück offenbart der Film das Verhältnis von Rosa zu den anderen Figuren und immer mehr Facetten ihres Charakters, etwa in einer frühen Szene mit ihrer großen Liebe Leo Jogiches. Er: „Du musst dich entscheiden: Willst du Mutter oder Revolutionärin sein?“ Sie: „Beides!“ Leo: „Deine Aufgabe ist es, Ideen in die Welt zu setzen, das sind deine Kinder.“ Rosa zerschlägt weinend einen Spiegel.
Schlöndorff bürgte für Trotta
Margarethe von Trotta kam vom Neuen Deutschen Film, einer Bewegung junger westdeutscher Filmemacher aus den frühen 1960ern, die herkömmliche Erzählstrukturen zertrümmerte und Geschichten politisierte. Ein ausschließlich männliches Projekt. Frauen kamen nur als Schauspielerinnen vor, unter ihnen Trotta. Sie spielte bei Fassbinder und Schlöndorff, beobachtete sie. Wurde Co-Autorin und Co-Regisseurin bei Die verlorene Ehre der Katharina Blum mit Schlöndorff, der für sie „bürgte“.
Dann machte Trotta allein einen auffallenden Film nach dem anderen bis zu ihrem Welterfolg Die bleierne Zeit, für den sie als erste Frau den Grand Prix in Venedig bekam. Die linksradikale Marianne, wie Rosa gespielt von Barbara Sukowa, scheint in Rosa Luxemburg manchmal auf. Etwa als sie vom Wärter in Wronke ermahnt wird, ihre Besucherin nicht zu umarmen. Da schleudert die bis dato sanftmütige Gefangene zornig und furchtlos ein Buch nach dem Mann. An einem Scheitelpunkt im Kosmos treffen sich für ein paar Sekunden Rosa Luxemburg, Marianne und Barbara Sukowa. So was kann nur Trotta.
Warum gab es in der DDR keinen Rosa-Luxemburg-Film wie den ihren? Weil es in der DDR weit und breit keine Margarethe von Trotta gab und nicht geben konnte. Aber warum gab es überhaupt keinen DDR-Spielfilm über Rosa Luxemburg?
Filmbiografien revolutionärer Helden sind in der DDR in Gestalt zweier staatlich gewünschter Prestigeproduktionen entstanden: je ein Zweiteiler über Ernst Thälmann (1954/1955) und über Karl Liebknecht (1965/1972). Die künstlerische Prämisse beider Werke lautete: Makellosigkeit der Titelfiguren, im Subtext die DDR-Gegenwart als Erfüllung ihrer Ideale. Es waren pathetische Bilderbögen der Revolution, teils mit brisanten Tabus belegt. Brüche im Leben der Helden durfte es nicht geben. Die Filme vermieden die Sterbeszenen der Revolutionäre. „Thälmann ist niemals gefallen“, hieß es einst in einem Lied, das war das Motto. So marschiert der Film-Thälmann aus der Zelle statt zur Erschießung immer weiter voran, im Hintergrund werden die Henker von wehendem roten Fahnentuch ersetzt. Dazu Kampfgesang. Einen Spielfilm über Rosa Luxemburg mag man sich da nicht vorstellen. Insofern wurde sie geschont.
Dennoch ist sie in den Filmen als Zaungast zu sehen, darf in dem über Thälmann einen einzigen Satz sagen: „Wir können nicht länger auf den Kurier warten.“ Im Liebknecht-Film liest sie in zwei, drei Szenen als ernste, steife Matrone aus irgendwelchen Schriften. Und als sie 1918 aus dem Breslauer Gefängnis in Berlin ankommt, entschuldigt sie sich trotz ihres spärlichen Textes bei den Genossen dafür, dass sie zu viel rede, weil sie zu lange im Gefängnis allein gewesen sei. Sie sehen es ihr nach.
War es Zufall, dass Rosa Luxemburg in der DDR als Spielfilmfigur ein Schattendasein führte? Zwar gehörte sie zu den Märtyrern der Revolution. Aber ihre scharfe Kritik am Vorgehen der Bolschewiki in der posthum erschienenen Schrift Zur russischen Revolution erschien in der DDR erst 1974; man ließ sie dann lieber in den Bibliotheken, statt sie für eine Öffnung und Umgestaltung der Gesellschaft zu nutzen. Rosa Luxemburg hatte vorausgesehen, dass mangelnde Demokratie im Sozialismus seine Idee ad absurdum führt. Sie nahm den Untergang der DDR gewissermaßen vorweg. War sie zuvor schon eine heimliche Persona non grata, wurde sie es erst recht, als Oppositionelle von 1988 an ihren Satz von der „Freiheit der Andersdenkenden“ als Schlachtruf entdeckten.
Der Trotta-Film handelt von einer misslungenen Revolution. In der DDR lief er vor einem Publikum, das sich gerade selber in einer misslingenden Revolution befand. Den Spiegel hielt Trottas Film aber auch dem Westen und seiner gut eingerichteten Sozialdemokratie vor. Er kam aus einem Land, wo es möglich war, dass sich der Auftraggeber der Morde an Luxemburg und Liebknecht, Generalstabsoffizier a.D. Waldemar Pabst, im Spiegel-Interview 1962 seines Patriotismus rühmen und sagen durfte, er habe Luxemburg/Liebknecht nicht ermorden, sondern „richten“ lassen.
Trottas Film Rosa Luxemburg leuchtet noch heute spannend und erschütternd. Rosas Satz beim Abendessen mit dem SPD-Abgeordneten August Bebel – „Die Massen haben die Nase voll von eurem Parlamentarismus“ – könnte sie genauso gut gerade jetzt gesagt haben.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.